Buchvorstellung im Lernort: Dr. Heiko Neumann über Lebenswelten Dresdner Stasi-Mitarbeiter

Einen Blick auf die andere Seite, nicht die Betroffenen, sondern auf Täter und Verantwortliche des kommunistischen Regimes in der DDR gab es gestern Abend in unserem Lernort im früheren Hafttrakt B. Der Historiker und Geschichtslehrer Dr. Heiko Neumann, freier Mitarbeiter der Gedenkstätte Bautzner Straße in Dresden und mit dieser Studie promoviert bei Prof. Dr. Mike Schmeitzner am Hannah-Arendt-Institut, stellte in einer gemeinsamen Veranstaltung unseres Lern- und Gedenkorts und der Stiftung Sächsische Gedenkstätten seine in der Schriftenreihe der Stiftung erschienene Arbeit „Ein Ort für ,Menschen mit neuem Bewusstsein‘ – Lebenswelten hauptamtlicher Mitarbeiter der Bezirksverwaltung Dresden des MfS 1950 bis 1989“ vor.

Wie sahen sie aus, Dienstalltag und Leben der Hauptamtlichen? Was waren ihre Prägungen und ihre Ideologie, ihre Legitimations- und Rechtfertigungsquellen? Was bestimmte ihren Dienstalltag und ihr Leben mit Familie, Wohnen und Freizeit? Auf knapp 600 Seiten und versehen mit zahlreichen Abbildungen breitet Neumann orientiert an den Ebenen Struktur, Raum und Mensch eine Vielzahl an Rechercheergebnissen über die Dresdner Bezirksverwaltung und ihre am Ende mehr als 3.500 Beschäftigten aus. Hinzu kommen 32 Lebenswege aus der Leitungsebene wie der von Horst Böhm, der aus Karl-Marx-Stadt kommend 1981 in Dresden die Leitung übernahm und die dortige Bezirksverwaltung, wie Neumann formuliert, bis durch den Untergang 1989/90 führte. Die Gründergeneration mit ihren Erfahrungen von Verfolgung und Haft in der Zeit des Nationalsozialismus (nicht die russische Revolution) war jedoch der zentrale Identifikations- und Bezugspunkt.

In Chemnitz beleuchtete der Autor schlaglichthaft zentrale Erkenntnisse – von der baulichen Verdichtung der Bezirksverwaltung Dresden im Villenviertel an der Bautzner Straße über erwartete Verhaltens- und Charaktermerkmale der Mitarbeiter bis hin zur fortschreitenden „Entgrenzung“ von deren Arbeits- und Privatleben. Politisch loyal, leistungs- und überstundenbereit, planerisch vorgehend, nicht kumpelnd und führungsfähig sah der Stasi-Mitarbeiter aus, wenn er in Dresden über die Unteroffiziersdienstränge hinaus Karriere machen wollte. Nicht nur Bürohäuser waren rund um das Haftgebäude (unmittelbar neben dem Mehrzwecksaal) angeordnet, auch Wohnbauten, Versorgungskomplex, Medizinischer Dienst, Kindergarten und Klubhaus entstanden, mit Erzieherinnen und Friseurinnen mit Dienstgrad. Bis ins Intimleben seiner Mitarbeiter griff das Ministerium ein, wenn es Alkoholmissbrauch (auch offiziell wurde bei jeder Gelegenheit getrunken) zu ahnden oder im Kollektiv Affären zu diskutieren galt. Im Gegenzug gab es hohe Gehälter und Privilegien wie verkürzte Pkw-Bestellzeiten oder Urlaubsplätze.

Warum Autor und Stiftung sich dem Thema zuwendeten, wollte Moderatorin Dr. Ellen Thümmler, Leiterin des Fachbereichs Zeitgeschehen und Diskurs der Volkshochschule Chemnitz, wissen. Sein Ausgangspunkt, so Neumann, seien Besucherfragen nach den Mitarbeitern oder bestimmten Gebäuden in der Gedenkstätte gewesen. Und natürlich, so ergänzte Sven Riesel, Stellvertretender Geschäftsführer der Stiftung Sächsische Gedenkstätten, gehe es anders als sonst in der Schriftenreihe hier nicht um ein ehrendes Erinnern. Es sei wichtig zu erfahren, wie die Diktatur funktionierte. Denn daran ließ Neumann an diesem Abend keinen Zweifel: Die Staatssicherheit mit ihrem Elitebewusstsein als „Schild und Schwert der Partei“, nicht solitär, sondern eng verzahnt mit den anderen sogenannten bewaffneten Organen, war bei aller tatsächlichen Durchschnittlichkeit dazu da, die SED mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln an der Macht zu halten.

Das Buch „Ein Ort für ,Menschen mit neuem Bewusstsein‘ – Lebenswelten hauptamtlicher Mitarbeiter der Bezirksverwaltung Dresden des MfS 1950 bis 1989“ ist 2024 im Sandstein Verlag Dresden erschienen, umfasst 568 Seiten und kostet 29 Euro.

Unsere Bilder, fotografiert von Robert Schröpfer, zeigen oben einen Blick auf das Podium mit Dr. Heiko Neumann, Dr. Ellen Thümmler und Sven Riesel (v.l.), außerdem unten unser Vorstandsmitglied Volkmar Zschocke bei der Begrüßung, Dr. Neumann bei seinem Vortrag, Dr. Thümmler und Sven Riesel in der Diskussion sowie einen Blick auf den Büchertisch.

Wir danken recht herzlich allen Beteiligten sowie der Stiftung Sächsische Gedenkstätten und dem Sandstein Verlag Dresden für die freundliche Zusammenarbeit.

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