Definitionen und Fallbeispiele: Vladimir Shikhman im Lernort über Antisemitismus

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65 Besucherinnen und Besucher waren gestern Abend in unseren Lernort gekommen, um den Vortrag „Was ist antisemitisch und was nicht?“ von Prof. Dr. Vladimir Shikhman, Wirtschaftsmathematiker an der TU Chemnitz und Mitglied im Netzwerk Jüdischer Hochschullehrender, zu hören. Unter dem Eindruck des Anstiegs antisemitischer Äußerungen und Gewalttaten nach dem Angriff der islamistischen Terrororganisation Hamas auf Israel vom 7. Oktober 2023 ging es um Sprechweisen und bildhafte Darstellungen über den aktuellen Konflikt, wie sie in Sozialen Medien und bei Demonstrationen verbreitet werden. Der Impetus war ein erklärend-aufklärerischer. Die zentrale Frage: Was gilt in unserer Gesellschaft als antisemitisch und was ist als legitime Kritik an Israel zu verstehen?

In eineinhalb Stunden schlug der Referent den Bogen von der Geschichte mit religiösem Antijudaismus, völkischem Antisemitismus und modernem Antizionismus über die beiden aktuell wirkmächtigsten und konkurrierenden Antisemitismus-Definitionen – IHRA und Jerusalem Declaration on Antisemitism (JDA) – bis hin zu einer Reihe von Fallbeispielen. Stimmten IHRA und JDA darin überein, die Übertragung negativer Stereotype des traditionellen Antisemitismus auf Israel als antisemitisch einzustufen, beginnen bei der Frage nach dem Existenzrecht Israels die Unterschiede. Während das Infragestellen des Selbstbestimmungsrechts bei der IHRA klar unter Antisemitismus falle, nuanciere JDA anders. Dort sei das Kriterium, ob Jüdinnen und Juden das Recht abgesprochen werde, kollektiv und individuell gemäß dem Gleichheitsgrundsatz zu leben, unabhängig davon, so Shikhman, in was für einem oder in wie vielen Staaten.

Ein Tweet, der Ministerpräsident Netanyahu mit blutigem Mund und Augen zeigte, sei deshalb nach beiden Definitionen antisemitisch, da er Bilder des traditionellen Antisemitismus (Ritualmordlegende) auf Israel projiziere. Ein Sharepic, das die Umrisse des Staates Israel und der palästinensischen Gebiete mit Handabdrücken in den palästinensischen Farben fülle, sei nach IHRA antisemitisch (Infragestellung des Existenzrechts), nach JDA aber ambivalent. Ist der Gleichheitsgrundsatz für Jüdinnen und Juden hier noch mitgemeint?

Äußerungen wie Ablehnung des Zionismus, Boykottaufrufe gegen Israel, doppelte Standards oder Vergleiche israelischer Politik mit der Politik der Nationalsozialisten seien laut IHRA antisemitisch, nach JDA hingegen nicht beziehungsweise nicht per se (NS-Vergleich, solange er den Holocaust nicht relativiert).

Dass Vladimir Shikhman selbst die striktere IHRA-Definition vorzieht, blieb an dem Abend kein Geheimnis. Die JDA, so seine wenig hoffnungsvolle Prognose, werde von der Geschwindigkeit der gegenwärtigen Radikalisierung eingeholt, da die Kontexte, die in dieser Definition eine so große Rolle spielen, immer deutlicher aufzeigten, worauf bestimmte Äußerungen zielten. Bei einer Hörsaalbesetzung in Berlin hinterließen Aktivisten beispielsweise nicht nur Schriftzüge wie „Zionismus ist Faschismus“ (nach IHRA antisemitisch, nach JDA für sich genommen mutmaßlich erst mal nicht), sondern auch das rote Dreieck, Zeichen der Hamas.

Sein Plädoyer, so Vladimir Shikhman, sei weniger wissenschaftlich als vielmehr menschlich: Wenn wir in unserer Gesellschaft in einem Dialog bleiben wollen, dann dürfen wir nicht delegitimieren und dämonisieren. Differenzierung und Argumente seien die Grundlage für eine demokratische Debatte, die auch in Bezug auf den Nahostkonflikt möglich sein müsse.

Unsere Bilder, fotografiert von Kateryna Vdovchenko, Vladimir Shvemmer und Robert Schröpfer, zeigen Vladimir Shikhman bei seinem Vortrag in unserem Lernort, außerdem unser Vorstandsmitglied Volkmar Zschocke bei der Begrüßung und verschiedene Eindrücke von der anschließenden Diskussion.

Wir danken Prof. Dr. Vladimir Shikhman für die freundliche Zusammenarbeit und unseren Freiwilligen, die diesen Abend mit ermöglicht haben. Der technische Support lag bei unserem Kollegen Konstantin Wiesinger.

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