Der 17. Juni 1953 im Jahr 2021

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Im 30. Jahr der VOS-Bezirksgruppe Chemnitz fand die jährliche Gedenkfeier an den Volksaufstand des 17. Juni 1953 in der Parkanlage Hohe Straße statt. Am 17. Juni vor 68 Jahren gingen in mehr als 700 Städten, Ortschaften und Betrieben der DDR rund eine Million Menschen auf die Straße. Die Teilnehmenden der Demonstrationen und Kundgebungen an diesem Tag forderten u. a. den Rücktritt der SED-Regierung, bessere Lebensbedingungen, freie Wahlen, die deutsche Einheit und Freiheit für politisch Gefangene.
Der Volksaufstand wurde durch massiven militärischen Einsatz von Panzern und Truppen niedergeschlagen und aufgelöst. Der Aufstand kostete über 50 Menschen ihr Leben, Hunderte wurden schwer verletzt und Tausende wurden anschließend zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt. Gemeinsam mit der Vereinigung der Opfer des Stalinismus e.V. (VOS) erinnerte der Lern- und Gedenkort Kaßberg-Gefängnis e.V. an die mutigen Menschen, die sich gegen die Diktatur erhoben.
Oberbürgermeister Schulze, Bundesabgeordnete Detlef Müller und die Landtagsabgeordneten wie auch Vorstandsmitglieder Alexander Dierks, Volkmar Zschocke und Hanka Kliese sprachen in ihren Grußworten u.a. von unserer Verpflichtung an den Widerstand in der SBZ/DDR und deren Opfer zu erinnern und jene freiheitlichen Errungenschaften zu wahren, für die die mutigen Frauen und Männer 1953 eingetreten sind. Die Gedenkfeier wurde durch den Solisten Andreas Winkler musikalisch begleitet. Stellvertretend für den Lern- und Gedenkort Kaßberg-Gefängnis e.V. sprach die Landtagsabgeordnete Hanka Kliese:

Der 17. Juni 1953 im Jahr 2021

„Sehr geehrte Damen und Herren,

lassen Sie uns einen Blick zurückwerfen. Nicht in die 1950er-Jahre, sondern in das Jahrzehnt, indem die Forderungen und Wünsche, die den Volksaufstand 1953 trugen, Realität wurden. Zu Beginn der 1990er-Jahre wähnten wir uns am Ziel, die Diktaturen dieser Welt verloren gegenüber den freiheitlichen Demokratien Stück für Stück an Boden. Der amerikanische Politikwissenschaftler Francis Fukuyama bezeichnete diese Entwicklung gar als das Ende der Geschichte. Diese viel zitierte Einschätzung zeugt von der Euphorie und der Aufbruchsstimmung, die viele von uns zu jener Zeit ebenfalls verspürten.

Doch heute sehen wir uns mit einer anderen Situation konfrontiert. Autokratien sind wieder auf dem Vormarsch. Die Zahl der Länder, in denen die Demokratie durch Aushöhlung der Rechtsstaatlichkeit und Einschränkung der politischen Freiheiten untergraben wird, steigt. Autoritäre Regierungsmuster haben in den vergangenen zehn Jahren kontinuierlich zugenommen.

Gerade mit Blick auf die Corona-Pandemie, die uns nun seit mehr als einem Jahr beschäftigt, scheint der Glaube an die Leistungsfähigkeit unserer Demokratie in Teilen der Bevölkerung Schaden genommen zu haben.

Vergleiche mit China wurden in dieser Zeit gern bemüht, wenn es um die staatliche Effizienz bei der Eindämmung des Virus ging. Obwohl das Argument – eine Konzentration von Macht in den Händen der Exekutive verbessere deren Regierungsführung – nachweislich falsch ist, bereitet mir diese Haltung große Sorge.

Unfreiheit, Unterdrückung und Fremdbestimmung gehören keineswegs der Vergangenheit an. In Hongkong konnten wir im letzten Jahr beobachten, wie eine Demokratie Stück für Stück ausgehöhlt und in ein autokratisches System überführt wurde. Wir erleben in Belarus die Willkürherrschaft eines Diktators, der trotz massiver Proteste der eigenen Bevölkerung nicht von der Macht lassen will. Im Sommer 2020 ließ er die Präsidentschaftswahlen fälschen und beantwortete die daraus resultierenden Proteste mit Festnahmen, Prügel und Folter. Auch vor Luftpiraterie schreckt er nicht zurück, wenn es darum geht, seine Kritiker mundtot zu machen.

Der Volksaufstand vom 17. Juni 1953 führt eindrucksvoll vor Augen, dass sich die Sehnsucht nach Freiheit nicht einfach unterdrücken lässt. Die Menschen in der DDR waren die Ersten, die sich gegen die sozialistische Herrschaft in ihrem Land zur Wehr setzten. Budapest 1956, Prag 1968 und Polen 1981 folgten der DDR. Den Bürgerinnen und Bürgern gelang es am 17. Juni 1953 dem Regime vor Augen zu führen, dass es weder ihren Rückhalt besaß noch in der Lage war aus eigener Kraft und mit eigenen Mitteln den Protest zu unterbinden.

Man bedenke, zu dieser Zeit gab es kein Twitter, kein Facebook und keinerlei Instand-Messenger-Dienste, dennoch weitete sich der Aufstand in einem beeindruckenden Tempo über das gesamte Land aus. Diese Wucht traf das Regime mit voller Härte, vom damaligen Minister für Staatssicherheit Wilhelm Zaisser sind die Worte überliefert: „Die Lage ist außerordentlich ernst. Es geht jetzt darum, wir oder sie“.

Nur durch das Ausrufen des Ausnahmezustandes, der anschließenden Zerschlagung der Demonstrationen und einer weitläufigen Verhaftungswelle gelang es der sowjetischen Besatzungsmacht, den Aufstand zu beenden und das SED-Regime vor seinem sicheren Untergang zu bewahren.

Der Preis, den die Bürgerinnen und Bürger für ihren Protest zahlen mussten, war hoch: Dutzende Menschen verloren ihr Leben. Einige von ihnen waren noch nicht einmal volljährig. Den etwa 3000 Festnahmen unmittelbar in den Tagen nach dem 17. Juni 1953 durch sowjetische Truppen folgten mit etwas zeitlichen Abstand 10 000 Verhaftungen durch den Sicherheitsapparat der DDR.

Wer fragt, was bedeutet der 17. Juni 1953 für uns in der heutigen Zeit, dem sei gesagt: Es geht nicht nur um Erinnern – es geht auch um Wertschätzung und Verantwortung. Wir sollten uns nicht nur am 17. Juni darauf besinnen, was Unfreiheit tatsächlich bedeutet. Was es bedeutet, wenn der Staat sich gegen seine eigenen Bürgerinnen und Bürger richtet, sie unterdrückt, ihnen kein Raum für demokratische Partizipation gewährt und ihre Freiheitsrechte drastisch einschränkt.Wir verfügen über das Privileg, in Freiheit zu leben, daher gilt es heute umso mehr, jene freiheitlichen Errungenschaften und Werte zu wahren, für die die mutigen Frauen und Männer 1953 eingetreten sind.

Aus dem Erinnern an sie erwächst eine Verantwortung: Unterdrückung und Ungerechtigkeit entgegenzutreten und all jenen Solidarität zu bekunden, die nicht über dieselben Freiheiten wie wir verfügen.

Orte wie das Kaßberg-Gefängnis sind Bastionen des Erinnerns. Die kritische Auseinandersetzung mit der Geschichte dieses Ortes, die vom Kaiserreich über die dunkle Zeit des Nationalsozialismus bis hin zum Häftlingsfreikauf in der DDR reicht, nährt unsere demokratische Kultur nachhaltig. Seit seiner Gründung im Jahr 2011 setzt sich der Verein Lern- und Gedenkort Kaßberg-Gefängnis e.V. dafür ein, auf dem Gelände der ehemaligen MfS-Untersuchungshaftanstalt Kaßberg in Chemnitz, einen Lern- und Gedenkort einzurichten. Ich bin sehr stolz darauf, dass dieses Ziel nun in greifbare Nähe gerückt ist.

Wir verfügen nun über ein Budget, das sich aus Fördermitteln des Bundes, des Landes und der Stadt Chemnitz zusammensetzt, um die Errichtung einer Gedenkstätte bis Mitte 2022 zu realisieren. Ohne das außerordentliche Engagement der Zeitzeuginnen und Zeitzeugen, der Vorstände und Mitglieder des Vereins wären wir nie so weit gekommen. Hierfür möchte ich Euch herzlich danken.

Am heutigen Gedenktag möchte ich auch den Mitgliedern der VOS meinen Dank aussprechen, weil es Ihnen Jahr für Jahr gelingt, die Erinnerung an den 17. Juni in diesem würdigen Rahmen auszurichten. Ich wünsche Ihnen die Kraft, weiterhin Ihre Erinnerungen öffentlich wach zu halten. Sie leisten damit einen wichtigen Beitrag für unser Miteinander und unsere Demokratie.

Vielen Dank.“

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