Mit freundlicher Genehmigung von Dietmar Müller

Dietmar Müller wurde am 31. Oktober 1954 in Guben (DDR) geboren

Welchen Bezug hat der Zeitzeuge zum Kaßberg-Gefängnis?

Die Regierung der Bundesrepublik Deutschland kaufte ihn im Jahr 1975 über das Kaßberg-Gefängnis frei. Dietmar Müller wollte die DDR 1974 auf „illegalem“ Wege über Ungarn verlassen.

Kurzbiografie

Dietmar Müller lebt heute im nördlichen Teil der hessischen Rhön. Er besichtigte das ehemalige Kaßberg-Gefängnis nach über 40 Jahren im Januar 2018. Einen Monat später wurde Dietmar Müller Mitglied im Verein. Der Text beschreibt die Zeit nach seiner missglückten Flucht in Ungarn.

„Insgeheim träumte ich zwischen den Wolken…“

Am 16. August 1974 machte sich der damals 19-Jährige vom Plattensee aus auf den Weg Richtung Sopron. Dietmar Müllers Fluchtplan sah vor, die DDR über die ungarische Grenze zu verlassen. Als er am nördlichen Ortsrand von Nagycenk den Blick gen Westen richtete, nahm er offenes Gelände und nur vereinzelt Sträucher wahr, die ihm hätten Sichtschutz geboten. Er kehrte um und überbrückte die Zeit bis zum Einbruch der Dunkelheit in einem Gasthaus. In der Dämmerung brach er erneut zum Ortsausgang auf. In einem Gebüsch zog er sich einen eng anliegenden Trainingsanzug an, da er befürchtete mit Jacke und Schlaghosen irgendwo hängen zu bleiben. „Als ich mich dann umschaute, sah ich, dass vom Ort her zwei Grenzsoldaten mit vorgehaltener Maschinenpistole und einem Hund direkt auf mein Gebüsch zukamen. Sie riefen irgendetwas…“ Dietmar Müller wechselte schnell seine Kleidung und verstaute den Trainingsanzug, bevor die Grenzsoldaten von ihm wissen wollten, was er hier triebe. Die Erklärung verhallte, er wolle nach Budapest trampen. Ein Militärjeep transportierte ihn zu einer Kaserne der ungarischen Grenzsoldaten (süd)westlich von Nagycenk.

Uniformiertes Personal verhörte ihn immer wieder mit der Absicht Widersprüche zu erzeugen. Seine Erklärungen akzeptierten sie nicht. Was ihn besonders verdächtig machte: Dietmar Müller hatte persönliche Dokumente dabei, z. B. den Berufsschulabschluss. Er erinnert sich: „Die Verhöre fanden unregelmäßig am Tag und in der Nacht statt und wurden mir gegenüber immer aggressiver geführt: Anlegen von Handschellen, Anschreien, das Zeigen von Knüppeln, Drohungen mich zusammenzuschlagen, Stoßen und Schupsen. Trotz zunehmender Aggressivität der Vernehmer, gelang es mir, bei meiner Version zu bleiben.“ Er hielt – sollte er freikommen – fest an dem Plan, die DDR „illegal“ zu verlassen. Nach drei Tagen kam er in das düstere und marode Gefängnis nach Györ, in dem ihn eine dunkle, verkommene und übelriechende Zelle erwartete. Im Haftraum gab es eine Pritsche, eine schmutzige Decke und einen Kübel für die Notdurft. Beim zweiten Verhör gestand Dietmar Müller. Durch die hygienischen Missstände bekam er eine schmerzhafte Hauterkrankung. Seine privaten Sachen aus dem Wandschrank vor der Zelle waren inzwischen verschwunden.

In einem Kastenwagen erreichte Dietmar Müller am 26. August 1974 ein Gefängnis in Budapest. Dreimal am Tag bekam er Essen: „Früh ein paar dicke Scheiben oder einen Kanten Brot, etwas Brotaufstrich und einen Zahnputzbecher dünnen Kaffee. Mittags meist dünne Suppe, abends Brot und eventuell etwas Käse.“ Um den Aborteimer in der Nachbarzelle zu erreichen oder um Wasser trinken zu können, musste er sich bei den Wärtern melden, die ihm erst aufschlossen und später wieder in der Zelle einschlossen. Ein Wärter beschimpfte ihn im gebrochenen Deutsch, er hätte hier nichts zu suchen. Dasselbe dachte sich Dietmar Müller. „Mein erstes Gespräch mit einem DDR-Stasi-Mitarbeiter, der sich auch als DDR-Jurist vorstellte, hatte schon ein paar Tage nach meiner Ankunft im Budapester Gefängnis stattgefunden.“ Dieser deutete zwar an, es bestünde eine Möglichkeit, die DDR legal zu verlassen, ging aber nicht näher darauf ein. Am 6. September 1974 erfolgte die Übergabe an Mitarbeiter des MfS. Es ging mit einem Kleinbus Richtung Flughafen. Bei der Fahrt musste Dietmar Müller seinen Kopf vornüber nach unten halten, ansonsten riskierte er Stöße und Schläge. Einige der MfS-Mitarbeiter rochen nach Alkohol.

„Vorbei ging es an großen und kleineren Maschinen. Sehnsüchtig schaute ich auf ein kleines westdeutsches und ein großes britisches Flugzeug. Der Kleinbus fuhr aber schnell vorbei hin zu einem weit abseits stehenden DDR Flugzeug, einer AN-24.“ Durch ein Spalier erreichten die Gefangenen aus dem Kleinbus das Flugzeug. Sie bekamen Handschellen angelegt. Neben jedem Häftling saß ein Aufpasser. Umdrehen durften sich die Gefangenen nicht. Dietmar Müller meint rückblickend: „Insgeheim träumte ich zwischen den Wolken davon, dass während des Fluges irgendwas passieren würde – vielleicht ein Blitzeinschlag –, wir in Westberlin landen müssten und die Gefangenen entdeckt werden und freikommen würden. Die AN-24 landete aber in Berlin-Schönefeld, rollte irgendwo rechts raus, und hielt weit abseits.“ Später erfuhr er von seinem Zwischenaufenthalt in Berlin Hohenschönhausen. Nachdem er vom Zuchthaus Cottbus in das Kaßberg-Gefängnis verlegt wurde, gelangte er durch den Freikauf durch die Regierung der Bundesrepublik 1975 in die Freiheit.

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