
Rund 30 Besucherinnen und Besucher waren gestern Abend zum Abschluss unserer Reihe SCHWERPUNKT FLUCHT in unseren Lernort im früheren Hafttrakt B gekommen. In seinem Vortrag „Flucht aus der DDR über die Ostsee, 1961 bis 1989“ stellte Henning Hochstein, begrüßt von Dr. Frank Schale vom Institut für Politikwissenschaft der TU Chemnitz, ein Forschungsprojekt der Universität Greifswald vor, dessen Ergebnisse seit März in Form eines biografischen Handbuchs vorliegen. Auf der Grundlage von Akten der DDR-Staatssicherheit, Volkspolizeikreisämter und Standesämter der Küstenregion sowie Rückmeldungen von Hinterbliebenen nach öffentlichen Aufrufen hatten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler Todesfälle in Zusammenhang mit Fluchtversuchen über das Meer recherchiert. Von 656 analysierten Fällen stuften die Forscher 135 als bestätigte Todesfälle bei Fluchtversuchen ein. 161 seien Verdachtsfälle geblieben, zwölf davon Verdachtsfälle mit hoher Wahrscheinlichkeit, 124 jedoch solche mit schlechten Aufklärungsausichten oder unüberprüfbar. Insgesamt wird von 5.000 Fluchtversuchen über die Ostsee ausgegangen, von denen ein unbekannter Anteil glückte, ein ebenfalls nicht benennbarer Teil aber vereitelt worden sein dürfte.
In Chemnitz gab Henning Hochstein als Projektbeteiligter zunächst einen Überblick über das Grenzregime der DDR mit Grenztruppen, 6. Grenzbrigade Küste und einer Vielzahl von Freiwilligen Helfern der Grenztruppen („FHG“), über Fluchtgebiete und Fluchtgruppen sowie Ablande- und Ankunftsorte und stellte vier der im Forschungsprojekt recherchierten Schicksale näher vor, darunter der 1969 zu Tode gekommene Jürgen Gottschalk. Der gebürtige Chemnitzer, Jahrgang 1944, hatte bereits 1965 als Student mit Bekannten einen Fluchtversuch über die Ostsee in einem Faltboot unternehmen wollen, war jedoch auf dem Weg zum Strand aufgegriffen und zu einem Jahr und acht Monaten Gefängnis verurteilt worden. Nach der Haftentlassung unternahm der inzwischen 25-Jährige im September 1969 einen weiteren Fluchtversuch. An der Außenreede Warnemünde schwamm er von Wachtposten unentdeckt mit Taucherausrüstung zu einer Fähre mit dem Ziel Dänemark und befestigte ein Seil an dem Schiff, um sich ziehen zu lassen, wobei er mutmaßlich ertrank. Am 5. September 1969 wurde sein Leichnam vor Warnemünde in der Ostsee gefunden.
Um bloße Verzweiflungstaten, so Henning Hochstein, habe es sich bei den Fluchtversuchen vielfach nicht gehandelt. Für die meisten Fluchtwilligen habe es einen Lebensweg in der DDR in vorgezeichneten Bahnen gegeben, der für die Betroffenen aber aus jeweils spezifischen Gründen nicht mehr vorstellbar gewesen sei. Oft wurde die Flucht akribisch vorbereitet, Neoprenanzüge oder Faltboote beschafft und auf Binnengewässern trainiert, wenn auch häufig in Unkenntnis der Verhältnisse auf See. Ziele waren die westdeutsche Seite der Lübecker Bucht, Fehmarn, dänische Inseln, auch Schweden oder Schiffe auf internationalen Schifffahrtsrouten. Das vom DDR-Grenzregime hervorgerufene Dilemma der Fluchtwilligen: Je weiter westlich die Ostsee überwunden werden sollte, desto größer war die Chance, das Meer erfolgreich zu überqueren, aber auch die Gefahr, von den Grenztruppen aufgegriffen zu werden. Je weiter östlich der Fluchtversuch unternommen wurde, desto geringer war die Gefahr entdeckt zu werden, aber auch die Chance, sein Ziel über See zu erreichen.
Unser SCHWERPUNKT FLUCHT ist eine Kooperation des Lern- und Gedenkorts Kaßberg-Gefängnis, des Instituts für Politikwissenschaft der TU Chemnitz und der Volkshochschule Chemnitz. Er wird mitfinanziert durch Steuermittel auf der Grundlage des vom Sächsischen Landtag beschlossenen Haushaltes und unterstützt von der Sächsischen Landesbeauftragten zur Aufarbeitung der SED-Diktatur.
Wir danken recht herzlich unseren Partnerinnen und Partnern, namentlich Dr. Ellen Thümmler und Enrico König von der Volkshochschule Chemnitz sowie Dr. Frank Schale vom Institut für Politikwissenschaft der TU Chemnitz, sowie unserer Freiwilligen Sylvia Müller. Den technischen Support hatte unser Kollege Konstantin Wiesinger.
Unsere Sonderausstellung „An der Grenze erschossen – Erinnerung an die Todesopfer des DDR-Grenzregimes in Sachsen-Anhalt“ des Beauftragten des Landes Sachsen-Anhalt zur Aufarbeitung der SED-Diktatur ist ebenfalls Bestandteil unseres gemeinsamen SCHWERPUNKTs FLUCHT und noch bis Sonntag, 13. April während der Öffnungszeiten in unserem Lernort im früheren Hafttrakt B zu sehen.
Unsere Bilder, fotografiert von Robert Schröpfer, zeigen Henning Hochstein (r.) und Dr. Frank Schale bei der Begrüßung, außerdem unten Henning Hochstein bei seinem Vortrag und weitere Eindrücke von gestern Abend.
Weitere Informationen zum Forschungsprojekt und zum biografischen Handbuch „Tödliche Ostseefluchten aus der DDR 1961-1989“ finden Sie hier beziehungsweise hier.



