
Mit einem Podiumsgespräch sind am Dienstagabend in unserem Lernort im früheren Hafttrakt B unser SCHWERPUNKT FLUCHT und die neue Sonderausstellung „An der Grenze erschossen – Erinnerung an die Todesopfer des DDR-Grenzregimes in Sachsen-Anhalt“ eröffnet worden. Im Beisein des Beauftragten des Landes Sachsen-Anhalt zur Aufarbeitung der SED-Diktatur, Johannes Beleites, in dessen Behörde die Ausstellung erarbeitet wurde, und moderiert von der stellvertretenden Sächsischen Landesbeauftragten, Dr. Teresa Tammer, berichteten unsere Zeitzeugin und Vereinsvorständin Veronika Brandt und unser Zeitzeuge Michael Teupel – beide aus dem heutigen Sachsen-Anhalt stammend – von ihren missglückten Fluchtversuchen aus der DDR und der anschließenden Haft.
Veronika Brandt hatte als junge Frau 1968 – wie später Michael Teupel – versucht, die DDR über Ungarn zu verlassen. Zuvor hatte sie über eine Brieffreundschaft Kontakt in die Schweiz gefunden und als Touristin den Prager Frühling miterlebt. Nach stundenlangem Marsch im Regen wurde sie an der ungarisch-jugoslawischen Grenze aufgegriffen und zunächst in Szeged, später Budapest, Berlin-Hohenschönhausen und Magdeburg inhaftiert. Ein Gericht verurteilte sie zu anderthalb Jahren Gefängnis. Zum Strafvollzug kam sie als sogenannte Kalfaktorin in die Frauenabteilung der Untersuchungshaftanstalt Stendal, bevor sie im November 1969 auf Bewährung entlassen wurde. „Du hast es wenigstens versucht“, dieses Gefühl, so berichtete Veronika Brandt, habe sie lange getragen, und es sei bis heute ihre Haltung, auch wenn sie später Nachteile, etwa bei der Berufswahl, erlitt.
Michael Teupel, der aus einem antikommunistischen Elternhaus stammte, hatte den Tipp erhalten, in Jugoslawien könne er in der deutschen Botschaft Papiere bekommen, mit denen ihn die dortigen Behörden ausreisen lassen würden. Der damals 18 Jahre alte Berufsschüler wollte den Grenzfluss Drau durchschwimmen, unternahm dann aber einen Fluchtversuch im Kofferraum eines Autos und wurde verraten. Haftstationen in Pécs, Budapest und dem Roten Ochsen in Halle (Saale) folgten. Im Dezember 1980 wurde er zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt und zum Strafvollzug nach Brandenburg-Görden gebracht, wo Michael Teupel unter verurteilten Doppel- und Mehrfachmördern Todesängste durchlitt. Im Januar 1982 wurde er im Rahmen des Häftlingsfreikaufs aus der DDR über den Kaßberg in die Bundesrepublik entlassen.
Vor Beginn der Veranstaltung hatten die Teilnehmenden an unserem Gedenkort in der Kaßbergstraße gemeinsam mit Blumen an Fluchtwillige erinnert, deren Fluchtversuche tödlich ausgegangen waren. Die Sonderausstellung „An der Grenze erschossen“ informiert auf zehn Roll-ups mit Bildern und Texten über das Grenzregime der DDR und listet alle bekannten Todesfälle mit sachsen-anhaltischem Bezug auf. 75 Frauen und Männer wurden bis 1989 an der 342 Kilometer langen Grenze des heutigen Landes Sachsen-Anhalt zu Niedersachsen getötet. 31 Einwohnerinnen und Einwohner aus Städten Sachsen-Anhalts verloren an der Berliner Mauer und anderswo am Eisernen Vorhang ihr Leben.
Die Sonderausstellung ist wie das Podiumsgespräch Teil unseres SCHWERPUNKTs FLUCHT. Sie ist bis 13. April während der Öffnungszeiten in unserem Lernort im früheren Hafttrakt B zu sehen. Der Eintritt kostet 8, ermäßigt 5 Euro und gilt sowohl für die Sonder- als auch für die Dauerausstellung. Am Donnerstag, 10. April, 19 Uhr folgt der Vortrag „Flucht über die Ostsee aus der DDR, 1961 bis 1989“ von Henning Hochstein. Der Abend „Stasiknast und Ostseeflucht“, der ebenfalls zur Reihe gehört, fand bereits im Dezember statt.
Der SCHWERPUNKT FLUCHT ist eine Kooperation mit der Volkshochschule Chemnitz und dem Institut für Politikwissenschaft der TU Chemnitz. Er wird mitfinanziert durch Steuermittel auf der Grundlage des vom Sächsischen Landtag beschlossenen Haushaltes und unterstützt von der Sächsischen Landesbeauftragten zur Aufarbeitung der SED-Diktatur.
Wir danken recht herzlich Veronika Brandt und Michael Teupel, außerdem dem Beauftragten des Landes Sachsen-Anhalt und der Sächsischen Landesbeauftragten zur Aufarbeitung der SED-Diktatur, unseren Partnerinnen und Partnern, namentlich Dr. Ellen Thümmler und Enrico König von der Volkshochschule Chemnitz sowie Dr. Frank Schale vom Institut für Politikwissenschaft der TU Chemnitz, sowie unserer Freiwilligen Lena Marie Sallat. Den technischen Support hatte unser Kollege Konstantin Wiesinger.
Unsere Bilder, fotografiert von Robert Schröpfer, zeigen oben im Podium unseren Zeitzeugen Michael Teupel, die stellvertretende Landesbeauftragte, Dr. Teresa Tammer (M.), und unsere Zeitzeugin und Vorständin Veronika Brandt, außerdem unten unsere wissenschaftliche Leiterin Dr. Steffi Lehmann bei der Begrüßung, einen Blick ins Publikum, den Beauftragten des Landes Sachsen-Anhalt, Johannes Beleites, im Gespräch mit Dr. Steffi Lehmann und Dr. Teresa Tammer, Michael Teupel in der Sonderausstellung mit Besucherinnen und Besuchern sowie Blumen an unserem Gedenkort an der Außenmauer des ehemaligen Kaßberg-Gefängnisses.






