„Wir wollten eine Wunde heilen“

Veröffentlicht in: Aktuelles | 0

Zehn Jahre nach Gründung unseres Vereins startete mit dem Ersten Spatenstich am 25. November 2021 offiziell der Umbau des früheren Hafttrakts B des Kaßberg-Gefängnisses zum Lern- und Gedenkort. Zu diesem Anlass erreichte uns ein persönliches Grußwort unseres Gründungsvorsitzenden Dr. Clemens Heitmann, in dem er von den Anfängen des Vereins und der Idee eines Lern- und Gedenkorts berichtet.

„Liebe Vereinsmitglieder,
liebe Unterstützerinnen und Unterstützer des Projekts,
sehr geehrte Zeitzeuginnen und Zeitzeugen, die mit diesem Ort
auf vielfältige Weise verbunden sind!

Vor ziemlich genau zehn Jahren haben in Chemnitz acht Personen eine kühne Idee entwickelt. Hanka Kliese, Frank Heinrich, Raimund Köhnen, Ronald Langhoff, Thomas Ranisch, Siegfried Reiprich, Volkmar Zschocke und ich wollten einen dunklen, kalten, leerstehenden Gefängnisbau vor dem Abriss und dem Vergessen bewahren. Wir wollten dort an Geschichte erinnern, eine Ausstellung schaffen, Menschen zueinander bringen und mit Menschen ins Gespräch kommen. Wir wollten eine Wunde heilen – bei den betroffenen Menschen und in der Stadt Chemnitz. 

Um diese Idee – nicht wenige hielten sie für Spinnerei – umsetzen zu können, haben wir an einem langen Abend im Restaurant ,Heck-Art‘ vereinbart, gemeinsam einen Verein zu gründen – den Lern- und Gedenkort Kaßberg-Gefängnis e.V. Ich selbst durfte dann bis zum Jahr 2013 Gesicht und Stimme dieses Vereins sein.

Dieses Bild hat ein leeres Alt-Attribut. Der Dateiname ist TagDesDenkmals2013_Heitmann.jpg

Ich erinnere noch sehr genau den Augenblick, an dem ich zuvor die Motivation für dieses Vorhaben gewonnen hatte. Am 17. Juni 2011 habe ich auf dem Kaßberg, an der Stele für die ,Opfer der Gewaltherrschaft in den Jahren 1945 bis 1989‘ eine kurze Rede gehalten. Ich war damals gerade seit einigen Monaten Leiter der Chemnitzer Stasiunterlagenbehörde und nach meiner Ansprache kamen Menschen auf mich zu und berichteten mir ihre Geschichten, die sich dort, wenige Meter entfernt hinter den Mauern des Kaßberg-Gefängnisses, zugetragen hatten. Ich war damals sehr bewegt und wollte schauen, wie an diese Schicksale erinnert wird. Und ich fand dann ein einsames, billiges Plastikschild: ,Zu verkaufen‘. In diesem Augenblick hatte ich das Gefühl, nein, eine Verpflichtung verspürt, ich müsse etwas tun.

Ich empfinde es bis heute als schicksalhaften Glücksfall, bei diesem Vorhaben wirklich großartige Mitstreiterinnen und Mitstreiter gefunden zu haben. Sie haben in atemberaubend kurzer Zeit und mit unvorstellbarem Einsatz unsere Idee Wirklichkeit werden lassen. Sie haben eine Website aufgebaut, das Thema in den Landtag eingebracht, Kontakte zu Behörden vermittelt, Medien auf unser Thema aufmerksam gemacht, Geld gesammelt, ehemalige Gefangene kontaktiert, Veranstaltungen organisiert und weitere Unterstützerinnen und Unterstützer geworben. Ich erinnere, dass auf Vereinsveranstaltungen Parlamentsabgeordnete Brötchen geschmiert, Schuldirektoren Eintrittskarten verkauft und Unternehmer den Gefängnishof gefegt haben. Ich erinnere, dass nach einer Museumsnacht mir eine studentische Helferin zehntausend Euro Bareinnahmen übergab, mit denen sie nicht durch die Dunkelheit nach Hause radeln wollte. Und ich erinnere natürlich, wie ehemalige Gefangene stundenlang Interessierten das Gefängnis gezeigt und ihre Geschichte erzählt haben. Ich erinnere Augenblicke ungläubigen Entsetzens ebenso wie große Erleichterung darüber, das Erlebte berichten zu können.

Die Wege des Lebens haben mich schon lange nicht mehr an Chemnitz vorbeigeführt, auch wenn ich unsere gemeinsame Idee, den Verein und Sie alle nie vergessen habe. Wenn ich nun heute, zehn Jahre später, sehe, was Sie zusammen erreicht haben, bin ich tief beeindruckt und empfinde unendlichen Respekt. Alle, die an diesem Projekt mitgewirkt haben – egal an welcher Stelle – können in diesem Augenblick glücklich und stolz sein.

Ich wünsche dem Projekt Lern- und Gedenkort Kaßberg-Gefängnis von Herzen gutes Gelingen. Ich wünsche dem Verein weitere kraftvolle zehn Jahre. Und ich wünsche Ihnen persönlich alles erdenklich Gute. Dieses ist Ihr Erfolg! Genießen Sie ihn – und bleiben Sie gesund!


Herzlich
Ihr Clemens Heitmann“

Der Verfasser, geboren 1969 in Hamburg, ist Historiker und Archivar und leitet das Staatsarchiv Meiningen. Von 2010 bis 2013 führte er die Außenstelle Chemnitz des Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen (BStU). Von der Gründung im Jahr 2011 bis 2013 war er Vorsitzender unseres Vereins.

Unser Foto zeigt Clemens Heitmann 2013 beim Tag des Offenen Denkmals. (Bildquelle: privat)


Auch unser Gründungs- und Vorstandsmitglied Volkmar Zschocke MdL erinnert sich in einem Beitrag auf seiner Website, den wir hier verlinken, an die Anfänge unseres Vereins. Wir übernehmen von ihm einen Auszug des Protokolls der Sitzung des Sächsischen Landtags vom 24. November 2011 mit Hervorhebungen von ihm. Am Ende der Debatte wurde ohne Gegenstimmen für die Einrichtung eines Lern- und Gedenkorts im ehemaligen Kaßberg-Gefängnis entschieden.

Link teilen