Seit seiner Gründung im Jahr 2011 setzt sich der Verein Lern- und Gedenkort Kaßberg-Gefängnis e.V. dafür ein, auf dem Gelände der ehemaligen MfS-Untersuchungshaftanstalt Kaßberg in Chemnitz, der zentralen Durchgangsstation für alle aus DDR-Gefängnissen freigekauften Häftlinge, einen Lern- und Gedenkort einzurichten. In ehrenamtlicher Tätigkeit engagieren sich die Mitglieder des Vereins seit dieser Zeit mit Führungen und Veranstaltungen. Regelmäßig organisiert der Verein Veranstaltungen und Zeitzeugengespräche in und außerhalb von Chemnitz. Bis zum Beginn der Umbaumaßnahmen im Winter 2018 ermöglichte er in den Jahren 2017 und 2018 – meist in Begleitung von Zeitzeug*innen – jeweils etwa 130 Gruppenbesichtigungen über das einstige Haftgelände. Die Höhepunkte der Vereinsarbeit bildeten in den vergangenen Jahren die Chemnitzer Museumsnächte. Jedes Jahr strömten über 1000 Besucher*innen in die ehemalige Gefängnisanlage. Wie groß das öffentliche Interesse am Kaßberg-Gefängnis und wie bedeutend die künftige Gedenkstätte als Begegnungsort und Lebensarchiv für die ehemaligen politischen Häftlinge ist, bewies der 10. August 2019: Gemeinsam mit der Freien Presse, dem Eigentümer der Haftanlage, der Chemnitzer Gesellschaft für Wohnungsbau mbH, und „Sing mit, Chemnitz!“ lud der Verein zur Besichtigung der Großbaustelle ein und informierte über den geplanten Lernort für Demokratie. Mehr als 2400 Besucher*innen folgten der Einladung, darunter viele ehemalige politische Häftlinge. Im zweiten Halbjahr 2022 soll der Lernort für Demokratie auf dem Chemnitzer Kaßberg seine Türen dauerhaft öffnen.

Das Projekt

In den beiden vergangenen Jahren erlebte das Projekt eine sehr dynamische und erfolgreiche Entwicklung. Einen wichtigen Beitrag leistete das große ehrenamtliche Engagement der Zeitzeug*innen, der ehrenamtlichen Vorstände und Mitglieder des Vereins. Zudem arbeitet der Verein seit Februar 2018 mit dem Berliner Projektentwicklungs- und Ausstellungsbüro beier+wellach projekte zusammen. Das unter Leitung von Peter Wellach erarbeitete Gedenkstättenkonzept überzeugte die Fördermittelgeber*innen: Der Verein plant in enger Abstimmung mit dem neuen Eigentümer, der Wohnungen in Teilbereichen des ehemaligen Gefängnisses sowie Stadthäuser auf dem Außengelände realisieren will, die Anbindung des Gedenkortes an die Gedenkstätte, die im ehemaligen Hafttrakt B situiert sein wird. Der Gedenkort wird durch einen Außenrundgang mit der künftigen Gedenkstätte verbunden. Dieser soll den Besucher*innen die Geschichte des Ortes über ein Modell und Informationsstelen vermitteln. Geplant ist, den Außenbereich unabhängig von den Öffnungszeiten der Gedenkstätte für alle Interessierten frei zugänglich zu gestalten. Der Weg um den Lernort führt zudem an nicht mehr vorhandenen Gebäudeteilen vorbei, wie der ehemaligen Busschleuse, durch welche die freigekauften Häftlinge gen Westen fuhren, oder den Freigangzellen, den sogenannten „Tigerkäfigen“. Unterstützt wird der Rundgang durch eine App für Smartphones und Tablets. Die Besucher*innen können mithilfe von digitalen Angeboten, wie der Virtualisierung der „Tigerkäfige“, den ursprünglichen Zustand des Gebäudes und seine Nutzungsgeschichte aufleben lassen.


Der Lernort für Demokratie

Im Haftgebäude selbst, dem bedeutsamsten Exponat des Lernortes, wird die Geschichte anschaulich durch die persönlichen Haftschicksale von Zeitzeug*innen vermittelt. Die Gedenkstätte wird mit ca. 1800 Quadratmeter Nutzfläche im Hafttrakt B, in jenem Zellentrakt entstehen, in dem die für den Freikauf bestimmten politischen Häftlinge untergebracht waren. Zwischen 1962 und 1989 kaufte die Regierung der Bundesrepublik Deutschland über 33.000 politische Häftlinge aus den Gefängnissen der DDR frei. Rund 90 Prozent von ihnen gelangten über das Kaßberg-Gefängnis im Bezirk Karl-Marx-Stadt in die Bundesrepublik.
Der Schwerpunkt der zukünftigen Dauerausstellung liegt auf dem Freikauf, einem in Deutschland und Europa einmaligem Vorgang. Gleichermaßen werden die anderen Epochen in der Geschichte des Haftortes Kaßberg betrachtet. In der Gegenüberstellung ist vor allem die Untersuchungshaft des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) wichtig, aber auch die Zeit der Nutzung durch den sowjetischen Geheimdienst NKWD in der unmittelbaren Nachkriegszeit sowie die Geschichte des Gefängnisses im Nationalsozialismus.

Die Ausstellung

Über den sogenannten Kopfbau, dessen Fassade vollständig denkmalgerecht wiederhergerichtet wird, gelangen die Gäste des Lernortes in den Eingangs- und Servicebereich mit Büros, einem Café sowie Seminar- und Veranstaltungsräumen. Diese Etage ist für pädagogische Bildungsprogramme und Sonderausstellungen vorgesehen und informiert über die frühe Geschichte des 1876 als Königlich-Sächsische Gefangenenanstalt erbauten Gefängniskomplexes. Im ersten, zweiten und dritten Obergeschoss beschäftigen sich die Besucher*innen chronologisch rückwärts mit der Geschichte des Kaßberg-Gefängnisses. Der Rundgang durch die Dauerausstellung beginnt im ersten Obergeschoss, hier wird auf ca. 350 Quadratmeter Ausstellungsfläche der deutsch-deutsche Häftlingsfreikauf thematisiert. Um dessen Geschichten gerade jüngeren Generationen anschaulich zu vermitteln, werden in ehemaligen Zellen die persönlichen Haftschicksale von Zeitzeug*innen geschildert. Die denkmalgeschützte Rotunde im ersten Obergeschoss des ehemaligen Gefängnisses kann als Sonderausstellungsfläche genutzt werden.

Der Rundgang beginnt im ersten Obergeschoss, Abb.: beier+wellach projekte

Das Kaßberg-Gefängnis ist durch seine Nutzungsgeschichte ein Erinnerungsort beider deutscher Diktaturen im 20. Jahrhundert. Deshalb stehen für jede Epoche Biografien der einstigen Inhaftierten im Mittelpunkt, die anschließend in einem eigenen Ausstellungsraum systematisch-chronologisch eingeordnet werden. So werden im zweiten Obergeschoss die MfS-Untersuchungshaft und die Haft in der Nutzungszeit NKWD beleuchtet. Im dritten Obergeschoss widmet sich die Ausstellung der NS-Diktatur. Die ehemaligen Zellen in den einzelnen Etagen werden als Ausstellungsräume genutzt, auch um die Entwicklung der Haftbedingungen abzubilden. Das Dachgeschoss wird zur potenziellen Erweiterungsfläche des Lern- und Gedenkortes. Die neue Gedenkstätte wird über alle Stockwerke barrierefrei mit einem Aufzug erschlossen.


Das Ziel des Lernortes

Der Kaßberg ist ein Schauplatz deutsch-deutscher Geschichte, hier kreuzen sich für die Zeitzeug*innen Erinnerungen an die Haftzeit im größten MfS-Untersuchungsgefängnis der DDR mit dem Beginn eines neuen Lebensabschnittes durch den Freikauf. Didaktisches Ziel der Ausstellungsnarration ist die empathische Annäherung an die Geschichte des Kaßberg-Gefängnisses über Protagonisten und die klare Trennung zwischen den Nutzungsepochen wie zwischen Kontext und subjektiver Erzählung. Zeitzeug*innen übernehmen in dem vielfältigen pädagogischen Programm der Gedenkstätte daher eine Schlüsselfunktion. Gerade junge Menschen sollen über biografische Workshops einen lebendigen Kontakt zu den Themen des historischen Ortes bekommen, der nah an ihrem eigenen Erfahrungshorizont ist. Der Lernort für Demokratie lädt zum freien Meinungsaustausch ein und wirkt demokratiefördernd. Er macht deutlich, was die Gesellschaft verliert, wenn der Rechtstaat abhanden geht.

Junge Menschen sollen einen lebendigen Kontakt zu den Themen des historischen Ortes bekommen, Zeitzeug*innen übernehmen eine Schlüsselfunktion, Foto: Dr. Steffi Lehmann

Die Förderung

Im Dezember 2019 gab Kulturstaatsministerin Prof. Grütters bekannt, dass der Verein Lern- und Gedenkort Kaßberg-Gefängnis für die Realisierung der geplanten Gedenkstätte im ehem. Kaßberg-Gefängnis Bundesmittel erhält. Der entstehende Lernort für Demokratie ist eines von drei Projekten zur Aufarbeitung des SED-Unrechts, deren Anträge in dem Jahr positiv beschieden wurden. Die Unterstützung des Bundes komplettiert das Finanzierungkonzept des Vereins. Im Oktober 2020 fand die Übergabe des Fördermittelbescheides durch Staatsministerin Barbara Klepsch für die Realisierung der Gedenkstätte statt. Insgesamt stellen der Freistaat Sachsen, die Stadt Chemnitz und der Bund rund 3,8 Mio. Euro für die Realisierung der Gedenkstätte zur Verfügung. Jürgen Renz, Vereinsvorsitzender, erklärte: „Wir freuen uns sehr über die positive Entscheidung. Damit schlagen wir ein neues Kapitel auf. Durch die Förderung können wir die Gedenkstätte so realisieren, wie wir es im Nutzungs- und Betriebskonzept vorgesehen haben.“ Der Freistaat Sachsen stellt für das Projekt 2,4 Millionen Euro aus dem Vermögen der Parteien und Massenorganisationen der ehemaligen DDR zur Verfügung. Die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien finanziert das Projekt mit rund 1,2 Millionen Euro. Zusätzlich zum Förderbescheid wird die Stadt Chemnitz die Errichtung der Gedenkstätte mit 180.000 Euro fördern. Die nach Fertigstellung anfallenden Betriebs- und Personalkosten werden durch die Stadt Chemnitz und die Stiftung Sächsische Gedenkstätten getragen. Der künftige Lernort für Demokratie gehört zu den Säulen der Chemnitzer Kulturförderung und spielt für Chemnitz, die Kulturhauptstadt 2025 eine zentrale Rolle.

Bescheidübergabe durch Staatsministerin Barbara Klepsch am 26.10.2020

Wir bedanken uns bei der Bundesbeauftragten für Kultur und Medien, bei der sächsischen Staatsregierung, der Stiftung Sächsische Gedenkstätten, der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur und bei der Stadt Chemnitz, die alle unser Projekt mit weitreichender Förderung bedacht haben. Ganz besonderer Dank gilt auch dem neuen Eigentümer des Kaßberg-Gefängnisses, dem Chemnitzer Unternehmen CEGEWO, welches uns seit Jahren tatkräftig zur Seite steht. Ohne diese Partner hätte der Verein den neuen Lernort für Demokratie nicht auf die Beine stellen können.

Gefördert durch die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien (www.kulturstaatsministerin.de), durch den Freistaat Sachsen / Sächsisches Staatsministerium für Wissenschaft, Kultur und Tourismus und den Kulturraum Stadt Chemnitz. Diese Maßnahme wird mitfinanziert durch Steuermittel auf der Grundlage des von den Abgeordneten des Sächsischen Landtags beschlossenen Haushaltes.

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