Veronika Bahr wurde im Jahr 1950 in Chemnitz geboren.

Welchen Bezug hat die Zeitzeugin zum Kaßberg-Gefängnis?

Nach einem gescheiterten Fluchtversuch über die Tschechoslowakei im August 1968 wird sie kurz nach ihrem 18. Geburtstag im Gefängnis auf dem Kaßberg inhaftiert.

Die meiste Zeit befindet sie sich im Trakt des Ministeriums des Innern, das direkt an den Haftflügel des Ministeriums für Staatssicherheit anschließt. Nach sieben Wochen Untersuchungshaft entlässt man sie aus Anlass des „Republikgeburtstages am 7. Oktober“ vorläufig, die Gerichtsverhandlung findet im Dezember 1968 statt. Das Urteil lautet: Ein Jahr zur Bewährung wegen „ungesetzlichem Grenzübertritt“.

Kurzbiografie

Aufgewachsen in zerrütteten Familienverhältnissen unter dem Einfluss einer tyrannischen Mutter, erlernte Veronika Bahr nach dem Schulabschuss zunächst den Beruf der Handelskauffrau bei HO Industriewaren. Während des „Prager Frühlings“ im August 1968 fasst sie den Entschluss, dem traumatisierendem Elternhaus durch Flucht über die tschechische Grenze in Bärenstein zu entkommen. Sie war gerade 18 Jahre alt geworden und wollte zu ihren drei älteren Geschwistern, die bereits seit den 1950er Jahren in Westdeutschland lebten. Von Karl-Marx-Stadt aus fuhr sie in einem Omnibus am 23. August nach Cranzahl und begab sich in der Dunkelheit in Richtung Bärenstein zur Grenze. Dort hörte und sah sie Panzer der Nationalen Volksarmee. Schweren Herzens gab sie daraufhin ihren Versuch auf, denn das Risiko erschien ihr zu hoch. Als sie nach einer Bushaltestelle suchte, um den Heimweg anzutreten, begegnete sie einer Streife. Dem nächtlichen und ununterbrochenem Verhör folgte ihre Verhaftung und am frühen Morgen der Transport ins Kaßberg- Gefängnis, wo sie bis Oktober 1968 Schikanen und Demütigungen ausgesetzt war. Sie teilte sich die Zelle im Hafthaus des Ministeriums des Innern mit „gewöhnlichen“ Kriminellen und fühlte sich ausgeliefert und elend. Weil ihr Lehrbetrieb für sie die Bürgschaft übernahm, verurteilte sie das Kreisgericht Karl-Marx-Stadt zu einem Jahr auf Bewährung unter offizieller Berücksichtigung ihres jugendlichen Alters und der eher intuitiven Flucht.

Gefangen“, Radierung von 2011

Durch ihre Inhaftierung erfuhr sie eine erneute Traumatisierung. Es folgten mehrere Nervenklinikaufenthalte mit wiederholter Gewaltanwendung durch Elektroschockbehandlungen. Die Erlebnisse bewirkten Persönlichkeitsveränderungen, die ihr weiteres Leben teilweise bis zum heutigen Tag beeinträchtigen. Dennoch schaffte sie es, sich im Jahr 1970 neu zu orientieren und berufsbegleitend zur Krankenschwester zu qualifizieren. In der Arbeit im Krankenhaus fand sie Erfüllung ebenso in ihrer Mutterrolle. Mobbing am Arbeitsplatz im Krankenhaus bewegten Veronika Bahr im Jahr 1989 jedoch zum Wechsel der Arbeitsstelle in ein Pflegeheim. Dort widerfuhr ihr Ähnliches, sie wurde schließlich frühberentet.

Specksteinskulpturen:
li. „Zusammenhalt“ von 2013, re. „Verbogen, Gedemütigt, voller Angst“ von 2011

Nach der deutschen Einheit trat vieles zu Tage, was sie über Jahrzehnte verdrängt hatte. Es erfolgte die Rehabilitierung und sie erhielt (endlich) die Möglichkeit therapeutischer Hilfe, um die erlebte Haftzeit als 18 Jährige und die sozialen Folgen – sie fühlte sich als Schwerverbrecherin, glaubte, ein schlechter Mensch und unwert zu sein, litt unter sozialer Angst und Gehemmtheit – zu verarbeiten. Es bedufte zahlreicher Psychotherapien. Die letzten Behandlungen zeigen langsam Wirkung. Sie sieht sich in die Lage versetzt, die Dinge beim Namen zu nennen, ihre Sprachlosigkeit, die erlittenen Verletzungen betreffend, zu überwinden und ihre „Versteinerung“ allmählich abzulegen. Während einer Psychotherapie Ende der 1990er Jahre kam sie das erste Mal mit Kunst in Berührung. Fortan nahm sie an verschiedenen Kursen teil und eignete sich Fachwissen an. Die Kunst wurde zu einer wichtigen Ressource, die über viele Jahre ihr einziges Ausdrucksmittel darstellte.

li.: Engel in Menschengestalt; 2019 re.: Biene; 2019

Heute lebt Veronika Bahr als Rentnerin in Chemnitz und sie widmet sich auf vielfältige Art der Kunst. Ihre Aquarelle, Radierungen, Linoldrucke oder Specksteinskulpturen wurden bereits ausgestellt, so im Frühjahr 2018 in der Bonhoeffer- Kirchgemeinde in Markersdorf und 2019 in der Kirche St. Nikolai- Thomas. Der Kontakt zum Verein entstand über den Chemnitzer Künstler Hartmut Leimcke und seine Ehefrau. Dafür danken wir Ihnen sehr.

Text: Veronika Bahr und Dr. Steffi Lehmann

Fotos: Portrait und Specksteinskulpturen: Marco Oelschlägel; übrigen Fotos der Werke: Thomas Jungnickel

weitere Quellen: Hach, Oliver: „Kunst für die Seele: Wie eine Chemnitzerin ihr Trauma von 1968 verarbeitet“ in Freie Presse vom 16.08.2018.

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