André Fischer wurde 1962 in Penig (heute Landkreis Mittelsachsen) geboren und wuchs im damaligen Karl-Marx-Stadt auf.

Welchen Bezug hat der Zeitzeuge zum Kaßberg-Gefängnis?

Er war von Oktober 1987 bis August 1988 im Kaßberg-Gefängnis eingesperrt, zunächst als Untersuchungshäftling, nach seiner Verurteilung zu zwei Jahren und vier Monaten Haft wegen sogenannter „Vorbereitung zum ungesetzlichen Grenzübertritt in schwerem Fall“ dann als politischer Gefangener im Männer-Arbeitskommando, bevor er als Freikaufhäftling in die Bundesrepublik entlassen wurde.

Kurzbiografie

André Fischer, ein Kind des Kaßbergs, wurde in der Theodor-Lessing-/Ecke Hübschmannstraße groß, die in der DDR August-Friedel-Straße hieß, und besuchte die Andréschule I. Später zog er in die Leonhardtstraße. Dass er einmal mit dem Staat in Konflikt geraten und im nahen Stasi-Gefängnis inhaftiert werden könnte, darauf deutete zunächst wenig hin. Nach der Mittleren Reife und einer Tischlerlehre verpflichtete er sich zu drei Jahren Armee, weil er Panzerkommandant werden wollte. Solche Verpflichtungen über den Grundwehrdienst hinaus galten den DDR-Oberen als Treuebeweis. Der junge Mann begeisterte sich für Sport, Technik und das Militär. Eine Offizierslaufbahn, die ihm angetragen wurde, lehnte er jedoch ab, genauso wie eine Ausbildung bei der Kriminalpolizei. Er scheute, sagt er, die politische Indoktrination und wollte eine Zusammenarbeit mit der Staatssicherheit vermeiden, die er bei einer Zusage befürchtete.

Intensiver über die Verhältnisse in der DDR und seinen Platz nachzudenken, begann er jedoch erst nach seiner Zeit in der Armee. Die wirtschaftliche Situation, die Wohnungsnot, die fehlende Reisefreiheit, Meinungs- und Demonstrationsverbote – das alles sei nicht unbemerkt an ihm vorübergezogen. Der Feldwebel der Reserve, der nun als Bautischler im VEB Webstuhlbau Karl-Marx-Stadt tätig war und privat gern Motorrad fuhr, durchdachte Einzelaktionen, sogar Umsturzpläne – „kleine Zellen, drei bis fünf Mann, in jeder Stadt, aber wie hätte ich Mitstreiter finden sollen?“ – und verwarf sie wieder, nicht um sich, sondern die Angehörigen – er sagt „Sippenhaft“ – nicht in Gefahr zu bringen. In seinen Augen übrig blieb lediglich der Versuch, aus der DDR herauszukommen.

„Wenn man flüchten will, dann weiß man, man muss sein bisheriges Leben hinter sich lassen. Entweder man wird verletzt oder unverletzt eingesperrt oder sogar durch das Grenzregime getötet. Und selbst wenn die Flucht gelingt, wird man lange Zeit ohne die Familie allein in einer fremden Umgebung leben.“

André Fischer

1987 stellte André Fischer einen Ausreiseantrag. Außerdem begann der damals 24-Jährige, Fluchtvorbereitungen zu treffen. Kurz zuvor war einem Freund die Flucht in den Westen gelungen. An den Wochenenden fuhr André Fischer von Karl-Marx-Stadt aus in die Altmark, in den Harz oder nach Thüringen, übernachtete in Pensionen und erkundete das nahe Grenzgebiet mit seinen Sperranlagen, wobei er unbemerkt in die Sperrzonen gelangte. Gibt es Gewässer, Feld oder Wald? Oder Ortschaften, die auf der Landkarte fehlen? Verläuft der Grenzabschnitt gerade oder ragt der Westen wie eine Spitze in die DDR hinein? Dann waren die Sperrstreifen breiter. Solche Fragen interessierten den zur Flucht Entschlossenen.

Hunde an Laufleinen, die sich diagonal überschnitten, Fahrzeugsperren, Sandstreifen, Streckmetallzaun, Wachttürme, Patrouillen mit Hunden, Suchscheinwerfer, manchmal mit zwei Metern Durchmesser, mitten im Feld … Noch heute kann er den Aufbau der Grenzanlagen beschreiben, der überall ähnlich gewesen sei, sich aber in der Staffelung unterschieden habe.

André Fischer kaufte Tarnanzug, Lederhandschuhe und Bolzenschneider, legte sich eine Sturmhaube zu und ließ sich unter dem Vorwand, klettern gehen zu wollen, von Bekannten in Metallberufen einen Dreizack-Wurfanker mit Seil, Steighilfen für Hände und Füße und eine Eisenstange mit spitzem Ende anfertigen. Mit ihr wollte er sich im Notfall gegen die Hunde zur Wehr setzen. Außerdem forderte er zwei Kumpel auf, die es ebenfalls versuchen wollten, sich eine ähnliche Ausrüstung zu beschaffen, und instruierte sie detailliert, was ihm später den Vorwurf, ein Rädelsführer gewesen zu sein, und die Einstufung als schwerer Fall eintrug. Zum Verhängnis waren ihm jedoch nicht die Mitwisser geworden, die er bald als zögerlich und unentschlossen wahrnahm, sondern dass er einen Teil der Gerätschaften in zwei Kartons in der leeren Bodenkammer eines Nachbarn aufbewahrte. Dieser, den Akten zufolge IM, stöberte darin herum und denunzierte André Fischer bei der Staatssicherheit.

Wenige Tage bevor er nahe Saalfeld (Thüringen) seinen Grenzübertritt geplant hatte, wurde André Fischer auf dem Weg zur Arbeit verhaftet und ins Kaßberg-Gefängnis gebracht. Er berichtet von drei Monaten Einzelhaft, Schlafentzug, nachts Neonlicht, Drohungen und der Angst, niemals wieder herauszukommen. 23 Uhr, 2 Uhr, 5 Uhr, manchmal auch am Tag wurde er zu den Vernehmungen geholt. „Sie sind doch Raucher, möchten Sie eine Zigarette?“, „Wir treiben dich in eine Sackgasse und stellen am Eingang unsere Geschütze auf“ oder „Wir können Ihnen von hinten durch die Brust ins linke Auge schießen“ – solche Sätze bekam er zu hören. Einmal machte ihm ein Vernehmer ein bitteres Kompliment: Mit seiner akkuraten Vorbereitung hätte er den Grenzdurchbruch geschafft. „Zum Glück sind wir Ihnen zuvorgekommen.“ Der einzige Lichtblick in seiner Erinnerung: Zu Weihnachten flogen eine Apfelsine und ein Apfel durch die Klappe der Zellentür herein, eine Spende der Kirche, sagt er.

Nach der Verurteilung im März 1988 wurde André Fischer zum Strafvollzug nicht nach Cottbus oder Bautzen, sondern innerhalb des Kaßberg-Gefängnisses verlegt. Im Männer-Arbeitskommando fehlte offenbar gerade ein Tischler. Er hatte Hängeschränke für die Zellen und zum Beispiel Deckenverkleidungen für andere Räume anzufertigen und Reparaturen auszuführen, auf dem Weg durch die Gebäude stets von einem Schließer bewacht. Zwar habe er bei der Arbeit im angestammten Beruf Ablenkung gefunden, und es habe Vergünstigungen wie Zeitschriften, Fernsehen und Bücher gegeben. Aber der psychische Druck, für mögliche Vergehen bestraft werden zu können, habe weiterbestanden. Die meisten der sieben oder acht Mitgefangenen im Männer-Arbeitskommando seien Kriminelle gewesen und die Gefahr, bespitzelt zu werden, war groß.

An einem Sommertag 1988 wurde er aufgefordert, alles in der Werkstatt stehen und liegen zu lassen. Nachdem er seinen Wunsch, in den Westen zu gelangen, auf Nachfrage eines MfS-Obersts erneuerte, wurde er in den Abschiebetrakt verlegt. Mit einer grauen Kunstlederreisetasche, ein oder zwei Stangen „Club“-Zigaretten, für die er sich entschieden hatte, als er seinen geringen Arbeitslohn aus der Haft im gefängniseigenen Kiosk ausgeben musste, seiner Ausbürgerungsurkunde sowie fünf Mark Ost Taschengeld wurde er in einem Barkas 1000 zum Bahnhof gefahren. Mit dem Zug ging es mit Umsteigen und bis zur Grenze unter Bewachung nach Gießen.

Im Westen gelangte André Fischer zunächst in die Stuttgarter Region, von dort in die Schweiz, dann nach Bayern und zurück nach Chemnitz, bevor er schließlich erneut den Weg in die Schweiz gefunden hat. Dort lebt André Fischer seit 25 Jahren in der Nähe von Zürich. Beruflich machte er nach dem Industrie- auch seinen Handwerksmeister und den Diplom-Kaufmann. Seit geraumer Zeit ist er im Facility Management beziehungsweise im technischen Unterhalt tätig und kann sich vorstellen, in ein paar Jahren nach Sachsen zurückzukehren. Gesellschaftlich, sagt André Fischer, habe er seinen Platz gefunden, und legt Wert darauf, dass er seit mehr als zwanzig Jahren CDU-Mitglied ist. Seine Lebensgeschichte ist eine der Zeitzeugen-Biografien, die in unserem zukünftigen Lern- und Gedenkort erzählt werden sollen.

Unsere Fotos zeigen André Fischer bei einem Besuch am Gedenkort in der Kaßbergstraße (oben), am Ende seiner Armeezeit und als Gast unseres Vereins mit Aktenkopien, Fotos und Zeitungsausrissen sowie in der Mitte eine Landkarte Südthüringens, eine Auswahl aus dem sogenannten Stasi-Bildbericht mit Fotos seiner Fluchtutensilien und den Zugfahrschein André Fischers ab Karl-Marx-Stadt Hauptbahnhof in die Freiheit.

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