Gerhard Kempe wurde am 5. Juli 1950 in Marienberg geboren.

Welchen Bezug hat der Zeitzeuge zum Kaßberg-Gefängnis?

Gerhard Kempe wurde am 9. August 1973 in Leipzig verhaftet und in die Untersuchungshaftanstalt auf den Kaßberg gebracht. Mitte September 1973 verurteilte ihn das Bezirksgericht Dresden wegen „staatsfeindlicher Hetze“, „Landfriedensbruch“ und „Staatsverbrechen, die gegen ein anderes sozialistisches Land gerichtet sind“ zu einer dreijährigen Freiheitsstrafe. Nach Haftstationen in Bautzen und in der Reichenhainerstraße in Chemnitz kaufte die Regierung der Bundesrepublik Deutschland ihn am 25. Februar 1976 über das Kaßberg-Gefängnis frei.

Kurzbiografie

Im September 2019 besichtigte Gerhard Kempe das Kaßberg-Gefängnis nach über 40 Jahren. Heute lebt er in der Nähe von Hamburg. Inzwischen ist er Mitglied im Lern- und Gedenkort Kaßberg-Gefängnis e.V. geworden.

Im März 2020 erschien die Autobiografie von Gerhard Kempe. Die folgenden Zeichnungen sind von ihm, ebenso der Text, den die Mitarbeiterin des Vereins (Dr. Steffi Lehmann) für die Homepage anpasste. Das war noch vor Veröffentlichung des Buches.

Verwahrraum fünf

Mit einem Mal kam mir die Erkenntnis, jetzt bist du in einem richtigen Knast. An der Decke ein Lichtband, jede Etage mit Sturzgittern gesichert und auf den Gängen lagen die Zellen wie auf einer Perlenkette aufgereiht. Der Schließer befahl: „Halt! Gesicht zur Wand!“ Sein Kollege schloss die Zellentür auf. Ich hörte eine Meldung.

„Achtung, Herr Meister. Verwahrraum Nummer fünf, belegt mit sechs Strafgefangenen, es meldet Strafgefangener Richter*.“

„Kempe, kehrt! Nehmen Sie Ihr Bündel und rücken Sie ein.“

Die Zellentür schloss sich und ich war restlos durch den Wind. Thomas Richter und ich, wir stellten uns zunächst mit Vornamen vor. Zunächst bemerkte ich, dass es in dem Raum nur sechs Betten gab. Thomas sah meinen wandernden Blick und lachte, „du hast die Ehre zwei Tage ins U-Boot zu steigen“. Er zeigte auf eine Holzpritsche, die unter dem Etagenbett stand.

„Jörg wird in zwei Tagen verlegt.“

„Ok, dann wird das bequeme Bett für mich frei?“

„Denkfehler. Die Neuzugänge fangen immer oben an.“

Jetzt erst betrachtete ich unser modisches Outfit. Außer angerauter Unterwäsche hatte ich eine dunkelblaue Hose und Jacke mit gelben Streifen an den Seiten und zwei blau-weiß gestreifte Hemden bekommen. „Auf die gelben Streifen sind die Hunde der Aufseher abgerichtet“, meinte Jörg.

Der erste Abend

Mein Blick taxierte nochmals die Räumlichkeit. An der rechten Wand bis in die hintere Ecke stapelten sich drei Betten übereinander. Darunter befand sich die mir zugedachte Holzpritsche. Direkt am Fußende des Bettgestells stand eine Spültoilette in Druckspülausführung. Ein Waschbecken gab es nicht. Zum Waschen wurden wir ausgeschlossen und marschierten unter Aufsicht in den Waschraum. Auf der linken Seite der Zelle neben der Tür sah ich ein offenes Regal für unsere – persönlichen – Sachen. Daran grenzte das zweite Dreifachbett. In der gegenüber liegenden hinteren Ecke des Raumes stand der Tisch mit sieben Stühlen. Plötzlich knurrte mir der Magen. Seit dem Frühstück bei der Stasi in Königstein hatte ich nichts mehr gegessen. Unerträglich erschien mir der Durst. „Genügt dir Wasser?“, fragte Peter. Ich bejahte. Er zog das Druckrohr aus dem Drucktaster der Toilettenspülung, hielt eine leere Teekanne darunter und drückte kurz. Er erklärte: „Nur mit entsprechender Fingerfertigkeit gelingt es dir, eine Tasse zu füllen. Wenn nicht, liegen hier neun Liter Wasser in der Bude.“ Jörg kündigte an, das Abendbrot käme in 15 Minuten. Er hörte anhand des Geschirrklapperns wie lange der Kalfaktor noch brauchen würde. Ich bezog meine Bettdecke für das U-Boot und räumte die restlichen Utensilien in das Schrankfach.

Alles offen

Wir hörten den Schlüssel im Türschloss. Alle traten zurück an die Betten. Thomas nahm die sieben Portionen und zwei Kannen Tee entgegen. Wieder rasselte das Schloss. Nun hatten wir Ruhe. Die Verpflegung in der Untersuchungshaft reichte weder zum Leben noch zum Sterben. Beim Abendbrot wurde erstmalig über die Hintergründe unserer Inhaftierung gesprochen. Da ich Neuzugang und Knastneuling war, baten sie mich, meine Geschichte zu erzählen. Als ich mit meinen Ausführungen endete, merkte Thomas an: „Bei dir ist alles offen, von Staatsverleumdung bis zur staatsfeindlichen Hetze. Das Strafmaß variiert zwischen zwei bis fünf Jahren, in schweren Fällen ist ein 50-prozentiger Aufschlag möglich. „Mach dir keinen Kopf, Gerhard. Vor diesen Gerichten bist du in Gottes Hand. Mich hatten sie schon zweimal am Arsch wegen Republikflucht.“

*Alle Namen sind geändert.

Link teilen