Dr. Hans-Jürgen Kühn wurde 1946 in Chemnitz geboren.

Welchen Bezug hat der Zeitzeuge zum Kaßberg-Gefängnis?

Hans-Jürgen Kühn befand sich von August 1972 bis zum Februar 1973 in der MfS-Untersuchungshaftanstalt auf dem Kaßberg.

Nach der Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren und sechs Monaten erfolgte der Transport in das Zuchthaus Cottbus. Die Regierung der Bundesrepublik Deutschland kaufte ihn im Dezember 1973 über das Kaßberg-Gefängnis frei.

Kurzbiografie

Hans-Jürgen Kühn legte im Jahr 1966 das Abitur ab. Anschließend begann er ein Studium an der Universität Halle. Wegen „politischer Unreife“ wurde Hans-Jürgen Kühn 1968 exmatrikuliert. Bis zu seiner Verhaftung arbeitete er als Disponent in Karl-Marx-Stadt (heute Chemnitz). Von August 1972 bis Ende Februar 1973 inhaftierte das Ministerium für Staatssicherheit ihn im Kaßberg-Gefängnis. Am 23. Februar 1972 sprach das Bezirksgericht Karl-Marx-Stadt das Urteil. Der ehemalige Student erhielt „wegen mehrfacher staatsgefährdender Hetze und wegen mehrfachen versuchten und wegen Vorbereitung zum illegalen Verlassen der DDR“ eine Freiheitsstrafe von vier Jahren und sechs Monaten. Bis zum Freikauf im Dezember 1973 durch die Bundesrepublik Deutschland war er im Zuchthaus Cottbus inhaftiert. Nach seinem Freikauf nahm Hans-Jürgen Kühn ein Studium an der Ludwig-Maximilians-Universität München auf. Er promovierte und arbeitete später als Dozent an der Volkshochschule München. Seit 2010 lebt er in Berlin.

Aufnahmefoto von 1972, erstellt in der Untersuchungshaft auf dem Kaßberg.

Einer der Hauptanklagepunkte, den das Gericht anführte, betraf einen Roman, den Hans-Jürgen Kühn in den Jahren 1968/1969 verfasste: „Die Sorgen und Nöte Linderlöh oder eine deutsche Verirrung“. Auf 56 DIN-A4-Seiten soll er laut Gericht gehetzt haben „gegen die sozialistischen Verhältnisse in der DDR in allen Bereichen, insbesondere gegen die führende Rolle der SED in der DDR, gegen die marxistisch-leninistische Ideologie und deren Verbreitung, gegen die Grenzsicherungsmaßnahmen der Regierung der DDR, gegen führende Repräsentanten der DDR sowie gegen die Sowjetunion und die freundschaftlichen Beziehungen der DDR mit der Sowjetunion“. Zur selben Zeit schrieb Hans-Jürgen Kühn etwa sieben Gedichte, die, so das Gericht, „den gleichen üblen hetzerischen Inhalt“ aufwiesen (Zitate aus Gerichtsurteil vom Februar 1973). Eines davon ist hier abgebildet:

Hexentanz auf dem Brocken

Da tanzen sie wieder
die Hexen am Brocken
aus Besen wurden
leichte Maschinenpistolen
sie schießen, die Hexen,
wenn sich am Zaun was bewegt
tausendfach bricht sich das Echo der Salve,
tausendfach wird es gehört und man flüstert:
auf dem Brocken treiben die Hexen ihr Spiel
tödliche Hexen – finstere Zeiten.

Der Entlassungsschein vom Dezember 1973.

Hans-Jürgen Kühn hat viele der Situationen seiner Inhaftierung noch klar vor Augen, sie begleiten ihn. An eine Szene auf dem Karl-Marx-Städter Hauptbahnhof kann er sich besonders gut erinnern. Die folgenden Zeilen stammen von ihm:

Öffentlicher Abtransport
Irgendwann musste die U-Haft enden. Sieben Monaten waren vergangen. Das Urteil war gesprochen. 4,5 Jahre wegen staatsfeindlicher Hetze. Aus dem Untersuchungshäftling wurde ein Strafgefangener. Vom Kaßberg-Gefängnis ging es im Auto zum Hauptbahnhof. Es war ein Nachmittag im März. Für die Platzkarte auf einer harten Holzbank im Zug war gesorgt. Zuvor wurden zirka zwanzig Mitgefangene auf dem Bahnhofsvorplatz aufgestellt. Immer zwei nebeneinander und mit Handschellen zusammengehalten. So stand die Gruppe erst einmal eine ganze Weile auf dem Platz vor dem Bahnhof. Links und rechts die Wachleute mit Hunden. Langsamer Abmarsch und noch langsamer durch die Bahnhofshalle. Die Leute sollten sehen, wer wir waren. Manche gafften, manche schauten weg, manche hatten etwas zu sagen. Oft nichts Gutes über die „Verbrecher“. Endlich der Bahnsteig. Es war das äußerste Gleis vor der Glasziegelwand. Der letzte Wagen war für die mit den Handschellen reserviert . Der Zug fuhr los. Keiner hatte eine Ahnung – wohin! Ankommen ist nirgends.

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