„Linderlöh“ (ein Anagramm auf Hölderlin) lautete der Titel eines Romanprojekts, das unser Zeitzeuge Dr. Hans-Jürgen Kühn, geboren 1946 in Chemnitz, in den Jahren 1968/69 verfolgte. Auf 56 DIN-A4-Seiten schilderte der Verfasser „Die Sorgen und Nöte Linderlöh oder eine deutsche Verirrung“. Ein DDR-Gericht legte ihm den Text später als „Hetze gegen die sozialistischen Verhältnisse in der DDR in allen Bereichen“ aus. Nach einem halben Jahr Untersuchungshaft auf dem Kaßberg wurde Kühn im Februar 1973 wegen „mehrfacher staatsgefährdender Hetze“ und angeblicher „Vorbereitung zum illegalen Verlassen der DDR“ zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren und sechs Monaten verurteilt und zum Strafvollzug in Cottbus eingesperrt, bevor ihn die Bundesrepublik im Dezember 1973 über das Kaßberg-Gefängnis freikaufte. Die Kurzgeschichte „Linderlöh“ von Hans-Jürgen Kühn, die wir im Folgenden dokumentieren, spiegelt das damalige Romanprojekt, die Verhaftung des Autors und seine Zeit in der Einzelhaft. 2019 erhielt Hans-Jürgen Kühn dafür den Kammweg-Literaturpreis des Kulturraums Erzgebirge-Mittelsachsen. „Jedes Wort sitzt, keins fehlt oder kann weg“, schrieb damals die Jury.

Von Hans-Jürgen Kühn

Meine vier Wände hatten sich über Nacht verabschiedet. Und Abschied tut weh. Noch war es ein harmloser Schmerz. Ein Schmerz, der sich noch nicht richtig lokalisieren ließ. Es fehlte die Zeit an diesem Morgen. Die Zeit, um aus den verstreuten Teilen ein Ganzes zu machen. Der Schmerz, das war kein Leberleiden. Es war auch kein eitriger Zahn. Ich war jung und gesund. Und zu viel Gesundheit wurde den Kranken gefährlich. Ich war eine Gefahr. Deswegen wurde ich nicht von der lieblichen Augustsonne geweckt. Es war auch kein Wecker, der klingelte. Jemand trommelte mit einem Schlüsselbund gegen die Tür. Und jemand rief etwas von draußen. Rief, als hätte der Wecker von diesem Morgen ab eine Männerstimme. Ich sprang auf. Das waren nicht meine vier Wände. Das war: ein Hocker, ein Holztisch, eine Pritsche. Ein Waschbecken und daneben die Kloschüssel. Nur in Notfällen hätte ich mich auf so eine Pritsche gelegt. Wahrscheinlich war ich ein Notfall! Ich ging zum Fenster. Das Fenster war kein Fenster zum Öffnen. Das war eine Wand aus Glasziegeln. Nur oben war eine Reihe frei. Eine leichte Brise wehte durch den Spalt. Ich hörte das Quietschen der Straßenbahn. Die Nummer 8, die sich den Berg hochquälte. Ich zog den Hocker zum Fenster. Ein Stück Morgenhimmel war über mir. Und in mir der Abend nach einem milden Augusttag. Und dazwischen war etwas, was erst noch ein ganzes Bild werden musste. Noch halb im Tiefschlaf wurde ich auf den Rücksitz eines Autos geschoben. Da saß ich. Saß eingequetscht zwischen zwei Männern. Männer wie? Draußen wurde es gerade hell.

„Ich flog mit dem Linderlöh davon. Flog weg von der Welt. Weg von den drei Freunden. Weil von den drei Freunden sich einer. Sich einer nicht nur vorlesen ließ. Weil einer oder zwei? Daran dachte ich erst an diesem Morgen. An diesem Morgen mit dem Fenster, das sich nicht öffnen ließ.“

Die vier Wände drückten von allen Seiten. Ich hätte ja längst unterwegs sein müssen. Unterwegs auf dem Weg zur Arbeit. Ich ging immer zu Fuß hin und zurück. Das waren drei Kilometer am Tag. Jetzt lief ich acht Schritte vom Fenster zur Tür und von der Tür wieder die acht Schritte bis ans Fenster. Das war zu wenig für einen gesunden Kreislauf. Zu wenig für einen jungen Menschen, der zweimal im Jahr einen Halbmarathon lief. Der junge Mensch. Der im nächsten Jahr einen richtigen Marathon laufen wollte.

An diesem Morgen werden die Kollegen auf mich warten. Ich kam immer pünktlich zur Arbeit. Ich disponierte und kaufte Material ein. Gussteile für Maschinen. Für Maschinen, die in alle Welt gingen. Die Welt in meinem Kopf war eine andere Maschine: Linderlöh. Linderlöh, der sich seit Jahren breitmachte. Aus der ersten Fassung wurde eine zweite. Und auch die zweite war noch nicht fertig. Ich ließ sie liegen. Ließ sie liegen, weil so ein Buch nicht wie eine Maschine vom Band läuft. Die Freunde drängten mich. Die Freunde. Elf Freunde sollt ihr sein. Heißt es. Es waren nur drei. Drei, denen ich vorlas. Drei, die mir auf die Schulter klopften. Drei, die mich beim Abschied an sich drückten, als sollte ich an ihnen kleben bleiben. Sie beflügelten mich mit meinem Zündstoff. Die Freunde. Das Ding zündet, sagten sie. Es zündete. Nur die Richtung war eine andere als vorgesehen. Ich flog mit dem Linderlöh davon. Flog weg von der Welt. Weg von den drei Freunden. Weil von den drei Freunden sich einer. Sich einer nicht nur vorlesen ließ. Weil einer oder zwei? Daran dachte ich erst an diesem Morgen. An diesem Morgen mit dem Fenster, das sich nicht öffnen ließ. Mit Männerstimmen, die mir sagten, wie ich am Tisch und auf dem Hocker zu sitzen hatte. Ich saß dann aufrecht auf dem Hocker. Saß aufrecht mit den Freunden, die den Linderlöh in die Welt bringen wollten. Die Welt. Das war sie dann. Die Welt. Hier am Fenster mit dem dämmrigen Licht um mich. Dämmriges Licht wie am letzten Abend. Ich holte den Linderlöh aus der Versenkung. Weil ich selbst kein Held war, erfand ich einen. Linderlöh. Das war der Held, den ich mir ausgedacht hatte. Die Welt brauchte Helden. Linderlöh, der die Fackel anzündet, um das Unkraut von der Heide zu brennen. Ich las, bis der Himmel sich langsam verfärbte. Niemals hätte ich die erste Fassung den Freunden. Niemals. Das Buch war nicht fertig. So eine Halbware hätte ich niemals weggeben dürfen. Von unseren Fließbändern gingen auch keine halbfertigen Maschinen in die Welt. Was hätte die Welt mit einer Kreiselpumpe ohne Laufrad anfangen können? Auch die zweite Fassung kam in die Versenkung zurück.

Eine Männerstimme rief: mitkommen. Ich ging mit. Ich ging durch ein Labyrinth von Gängen hinter dem Mann her. Hinter dem Mann in Uniform. Er schob mich in eine winzige Kammer ohne Licht. Ich wartete. Ich wartete, bis sich die Tür wieder öffnete. Ich ging hinter einem anderen Mann her. Der Mann hätte unser Abteilungsleiter sein können. Er trug keine Uniform. Er war ordentlich gekleidet. Er trug ein Jackett und darunter ein helles Hemd. Und auf dem hellen Hemd eine einfarbige Krawatte. Wir gingen in ein Zimmer mit einem richtigen Fenster. Der Mann setzte sich an den Schreibtisch. An so einem Schreibtisch disponierte ich. Der Abteilungsleiter saß mir oft so gegenüber. Manchmal sagte er mehrere Minuten gar nichts. Was hätte er auch sagen sollen? Wenn wieder mal die Laufräder für die Kreiselpumpen fehlten. Der Mann mit der Krawatte sagte auch nichts. Vor ihm lagen mehrere Blätter Papier. Etwas seitlich davon stand eine Schreibmaschine. Der Mann wartete. Ich wartete mit. Was hätte ich auch anders machen sollen? Obwohl es genau die Zeit für die Kaffeepause war.

„Der Mann am Schreibtisch wusste, worauf es ankam. Den Linderlöh sollte ich mir aus dem Kopf schlagen. Das hatte er mir noch hinterhergerufen. Der Mann. Er wedelte mit meinen Seiten, als wollte er sie nicht aus, sondern gegen meinen Kopf schlagen.“

Es klopfte. Ich drehte mich um. Ich hatte so sitzen zu bleiben, wie ich saß. Hinter mir wurde leise gesprochen. Es waren flüsternde Männerstimmen. Sie sprachen über mich. Es war mir unangenehm, wenn hinter meinem Rücken über mich gesprochen wurde. Etwas krachte auf die Schreibtischplatte. Linderlöh. Erste Fassung. So stand es dick auf dem Deckblatt. Die Tür hinter mir wurde zugeschlagen. Der Mann mit der Krawatte setzte sich wieder. Ich griff nach meinen Seiten. Der Mann nach meiner Hand.  Er nahm den Linderlöh und rückte mit dem Stuhl ein Stück zurück. Er las mir vor. Er las immer nur die Stellen, auf die es ihm ankam. Manchmal schaute er mich an und schüttelte den Kopf. So schüttelte der Abteilungsleiter den Kopf, wenn im Betrieb alles schieflief. Ich beugte mich etwas nach vorn. Ich sah rote Markierungen. Niemals hätte ich solche Zeichen an die Randseite gesetzt.

Hinter mir wurde die Tür leise geöffnet. Ich wusste schon, dass ich mich nicht umdrehen durfte. Ich blinzelte zur Seite. Ein Mann stand neben meinem Stuhl. Er streckte den rechten Arm aus. Zeigte der Finger auf mich oder auf den Stapel Papier? Auf den Stapel Papier, der auf dem Schreibtisch lag. Der Mann brüllte: Ist das der Linderlöh! Das hätte er so nicht sagen dürfen. Ich drehte mich um. Ich fühlte mich angesprochen. Das war ich. Ich stand auf und drehte mich zu ihm. Der Mann drückte mich mit beiden Händen zurück in den Stuhl. Er sagte noch etwas von der vielen Zeit, die mir gewidmet werden müsste. Ich blinzelte wieder. Der Mann verließ das Zimmer durch eine Tür an der Seite.

Den Linderlöh hätte ich gern mitgenommen. Er blieb bei dem Mann im hellen Hemd und der einfarbigen Krawatte. Ich ging wieder hinter einem Mann in Uniform her. Ich stand wieder vor dem Fenster mit den Glasziegeln. Ich dachte nicht daran, wie der Linderlöh in dieses Haus gekommen war. Ich dachte auch nicht mehr an die Freunde, von denen einer oder zwei. Ich hörte nur das, was der Mann mir aus der ersten Fassung vorgelesen hatte. Mir stieg das Blut ins Gesicht. Ich schämte mich. Das war schlecht und unfertig. Das war nicht das, was ich sagen wollte. Es war auch nicht das, was gesagt werden musste. Das war eine halbe Sache. Das war? Das war eine Kreiselpumpe ohne Laufrad. So wie er war, so konnte der Linderlöh nicht bleiben. Auch die zweite Fassung war nicht besser als die erste. Vielleicht hätte ich die schlechten Stellen auch markieren sollen? Der Mann am Schreibtisch wusste, worauf es ankam. Den Linderlöh sollte ich mir aus dem Kopf schlagen. Das hatte er mir noch hinterhergerufen. Der Mann. Er wedelte mit meinen Seiten, als wollte er sie nicht aus, sondern gegen meinen Kopf schlagen.

Ich stand an diesem Morgen noch lange am Fenster. An diesem Fenster mit den Glasziegeln. An dem Fenster, das sich nicht öffnen ließ. Ich stand nur so da. Es gab keinen anderen Platz mehr für mich. Der Tod wird lebend abgebüßt. Es gab nur die paar Schritte bis zur Tür und die paar Schritte wieder zurück bis ans Fenster. Ich hörte das Quietschen der Straßenbahn. Die Nummer 8, die sich den Berg hochquälte. Manchmal fuhr ich mit dem Fahrrad den Berg hoch. An diesem Morgen, noch halb in der Nacht, wurde ich hochgefahren.

Ich stand am Fenster. Ich hörte Kinderstimmen. Ich hörte das Surren des Laufrads in der Kreiselpumpe. Alles kreiselte durcheinander. Das Auto, das mich hierhergebracht hatte. Die Männer in Uniform. Die Dunkelkammer. Der Mann am Schreibtisch, das Rasseln der Schlüssel. Linderlöh.

Einen Beitrag über Hans-Jürgen Kühn im Zeitzeugen-Bereich unserer Website finden Sie hier. Die Fotos oben stammen aus der Stasi-Akte von Hans-Jürgen Kühn und zeigen ihn als jungen Mann, das Bild unten heute. Der Text erschien gedruckt im Preisträgerheft des Kammweg-Literaturwettbewerbs 2019. Copyright für den Text der Kurzgeschichte: Hans-Jürgen Kühn/Mit freundlicher Genehmigung

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