Wolfgang Lötzsch wurde am 18. Dezember 1952 in Chemnitz geboren.
Welchen Bezug hat der Zeitzeuge zum Kaßberg-Gefängnis?
Wolfgang Lötzsch wurde im Jahr 1976 wegen „Staatsverleumdung“ zu zehn Monaten Haft verurteilt.
Kurzbiografie
„Du wärst ein Rennen drüben gefahren, dann wärst du sowieso gestürzt.“
Wolfgang Lötzsch triumphierte nicht nur bei 552 Radrennen, sondern besiegte auch Friedensfahrtgewinner, Weltmeister und Olympiasieger. Die Chance, einer von ihnen zu werden, eröffnete sich für ihn jedoch nicht. Es genügte den Machthabern keineswegs, Wolfgang Lötzsch vom Leistungssport auszuschließen und die Regeln zu ändern, um ihn zu benachteiligen: Zehn Monate wurde er 1976 im Kaßberg-Gefängnis wegen „Staatsverleumdung“ inhaftiert.
Vom sportlichen Ausnahmetalent zum politischen Häftling
Schon früh entdeckte Wolfgang Lötzsch seine Leidenschaft und sein Talent für das Radfahren. Im Jahr 1970 trat er als 18-Jähriger dem Sportclub Karl-Marx-Stadt bei. Er avancierte zum Mitglied der staatlich geförderten Kaderschulen des DDR-Sportsystems. Sein größtes Ziel bestand darin, an der Friedensfahrt teilzunehmen. Im November 1971 wurde der vierfache DDR-Juniorenmeister und dreifache Spartakiadengewinner in den Kader der Friedensfahrt 1972 und der Olympischen Spiele in München berufen. Doch ein Jahr später erfolgte seine Entlassung aus dem Sportclub Karl-Marx-Stadt. Er erhielt eine Einstufung als „politisch bedenklich“. Zwei Jahre später folgte die unfreiwillige Ausgliederung, – angeblich – wegen der Kontakte zu Verwandten in Westdeutschland, der Weigerung in die SED einzutreten und der Gerüchte um Fluchtgedanken. Das staatliche Fördersystem blieb ihm verwehrt, lediglich in einer Betriebssportgemeinschaft (BSG) durfte er noch zu Rennen antreten. Trotz aller Schikanen und Rückschläge: Der einstige Spitzensportler des Radsports bezwang als Hobbysportler in der BSG Wismut Karl-Marx-Stadt die DDR-Radsportelite bei der Qualifikation für Olympia in Montreal. In der Folge blieb es BSG-Fahrern untersagt gegen privilegierte Club-Fahrer zu starten.
Das „Jahrhunderttalent“ des Radrennsports bekam ein absolutes Rennverbot auferlegt. Wolfgang Lötzsch („Lex Lötzsch“) stellte 1975 einen Ausreiseantrag. Daraufhin folgte der Ausschluss aus der BSG Wismut Aue, er verlor seinen Studienplatz und die Fahrerlizenz. Dennoch fuhr er weiter. Er motivierte sich immer wieder zu neuen Höchstleistungen, überwand Berganstiege und fuhr bei Verfolgungsrennen und Sprints allen anderen davon. Mit seinem Ehrgeiz und seiner Disziplin wollte er es dem System beweisen: Er lässt sich nicht unterkriegen. Als er im Dezember 1976 nach einer privaten Feier an einer Bushaltestelle schon erwartet wurde, macht Wolfgang Lötzsch seinem Unmut Luft: Er kritisiert die über ihn verhängten Sanktionen, beschwert sich über die ungerechte Behandlung und sympathisiert offen mit Wolf Biermann. Etwa zwei Tage später befindet er sich in der Untersuchungshaftanstalt (UHA) des Kaßberg-Gefängnisses in einer acht Quadratmeter großen Zelle. Der Vorwurf: „Staatsverleumdung“. Um sich körperlich fit zu halten, absolviert Wolfgang Lötzsch Sportübungen. In zehn Monaten schafft er fast eine Million Kniebeugen. Dazu kommen täglich unzählige Liegestützen. „Danach war man erst mal ein bisschen kaputt“, so Wolfgang Lötszch in einem Interview für das Projekt „Das Kaßberg-Gefängnis und seine Gesichter“. Wiederkehrend stellt er sich in der UHA die gleichen Fragen: Wie lange muss ich hier bleiben? Bedeutet dies das Ende meiner sportlichen Karriere? Was wird mir eigentlich zur Last gelegt?
Eine Flucht kam nie in Frage
Obwohl Wolfgang Lötzsch Drangsalierungen erlitt und seine sportliche Karriere erheblich behindert wurde, wollte er nicht aus der DDR flüchten. Er wusste zu was das Ministerium für Staatssicherheit imstande war und dachte an seine Eltern. Er sah nur einen Ausweg und trat 1985 völlig resigniert der SED bei. Rennen bestreiten, die ihm vorher verboten waren, durfte er erst 1989, im Jahr des Mauerfalls. Mit 37 Jahren gewann er als Mitglied des Teams Hannover den Deutschen Meistertitel im Mannschaftszeitfahren und die Bundesligawertung. Er bestritt Rundfahrten in der Schweiz und am Mittelmehr. Doch an den größten und für ihn wichtigsten Rennen, die er durchaus hätte gewinnen können, nahm er nicht als Radfahrer, sondern als Mechaniker teil. Nach der Deutschen Wiedervereinigung widmete sich Wolfgang Lötzsch seiner 2.000 Seiten umfassenden Stasi-Akte. Seit 2011 arbeitet er als Mechaniker beim Team NSP-Ghost. Heute betreut er junge Radrennsportler.
Bundesverdienstkreuz und Hall of Fame
Wolfgang Lötzsch konnte nie bei Olympia antreten und Medaillen mit nach Hause bringen. Für seine unsagbaren sportlichen Leistungen und seinen ungebrochenen Kampfgeist wurde er dennoch geehrt: Am 3. Oktober 1995 verlieh ihm Bundespräsident Roman Herzog das Bundesverdienstkreuz. Im Mai 2012 nahm die Jury der Stiftung Deutsche Sporthilfe ihn in die Hall of Fame des deutschen Sports auf. Er steht stellvertretend für den Bereich „Besondere Biografie durch die Teilung Deutschlands“.