„Freiheitsschock“: Ilko-Sascha Kowalczuk und Gerald Praschl diskutieren im Lernort

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Rund 100 Besucherinnen und Besucher hatte gestern der Beginn unserer Veranstaltungsreihe im Rahmen von „Sehnsucht Freiheit“ mit Ilko-Sascha Kowalczuk. Im Gespräch mit Gerald Praschl, Politikchef der Zeitschrift „SUPERillu“ und Verfasser zahlreicher Bücher zur DDR-Diktatur, stellte der Zeithistoriker und Publizist, einer der „wirkmächtigsten“ Forscher (so Praschl) zur Vergangenheit Ost, sein aktuelles Buch „Freiheitsschock – Eine andere Geschichte Ostdeutschlands von 1989 bis heute“ vor. Darin schlägt er den großen Bogen von Friedlicher Revolution und Mauerfall über Wiedervereinigung und Transformation bis hin zum Aufstieg von AfD und BSW. Nur eine Minderheit in der DDR habe sich gegen das Regime aufgelehnt. Die Mehrheit der Bevölkerung, so Kowalczuks zentrale These, habe „1989“ als Freiheitsschock erlebt, was in Wechselwirkung mit Prägungen aus der Diktatur, Trugbildern vom Westen und einem Paternalismus der damaligen bundesdeutschen Politikergeneration Haltungen verfestigt habe, die in demokratiefeindlichen Auffassungen und Wahlergebnissen münden. „Dass die Demokratie bei den letzten drei Landtagswahlen nicht vollkommen umgefallen ist, das liegt an den zwei Millionen Zugezogenen aus Westdeutschland.“

In dem bayerischen Dorf, aus dem er stamme, so hielt Moderator Gerald Praschl dagegen, stritten die Leute genauso über Energiewende, Migration und Gendersprache. Seien die Themen, die die Gesellschaft spalten, in Ost und West nicht dieselben? Überall im globalen Westen, so Kowalczuk, seien derzeit ähnliche Phänomene zu beobachten. Immer spielten Verunsicherung und Ängste eine Rolle. Die Ursachen und die konkrete Ausprägung aber seien jeweils spezifisch. Es gehe um die Sozialisation. Im Westen habe es 20, 25 Jahre gedauert, um Westbindung und liberale Demokratie zu verinnerlichen. Das sei im Osten nicht passiert. Auch eine Auseinandersetzung mit der Diktatur habe in der Breite der Gesellschaft nicht stattgefunden. „Und du kannst nur verlernen, was dir über Jahrzehnte eingetrichtert wurde, wenn du dich aktiv damit auseinandersetzt.“ Systemfeindlichkeit, Putinnähe, eine Abneigung gegen die Ukraine – das finde sich im Osten in der Mitte der Gesellschaft.

Optimistisch ist Kowalczuks Blick in die Zukunft nicht. Er hoffe, er irre sich, und kämpfe trotzdem, um das Umkippen in den Autoritarismus zu verhindern. Seine Analyse mündete entsprechend in einem Aufruf zur Selbstermächtigung. Es gehe darum, sich auch unliebsamen Tatsachen der eigenen Vergangenheit zu stellen, seine Geschicke in die eigene Hand zu nehmen, anzuerkennen, dass wir in einem der reichsten, sichersten und freiesten Länder der Welt leben, und Empathie mit denen zu haben, die um ihre Freiheit physisch kämpfen müssen wie die Ukrainer und politische Inhaftierte in Belarus. Kowalczuk: „1989 ist nicht zu Ende, 1989 entscheidet sich jetzt. In der Ukraine entscheidet sich, ob 1989 gewinnt.“

Unsere Bilder, fotografiert von Robert Schröpfer und Kateryna Vdovchenko, zeigen oben Gerald Praschl (l.) und Ilko-Sascha Kowalczuk im Gespräch, unsere wissenschaftliche Leiterin Dr. Steffi Lehmann bei der Begrüßung, bei ihren Wortmeldungen in der anschließenden Diskussion die stellvertretende Landesbeauftragte zur Aufarbeitung der SED-Diktatur, Dr. Teresa Tammer, unser Vorstandsmitglied Hanka Kliese und einen weiteren Teilnehmer, Blicke auf unseren Büchertisch, Ilko-Sascha Kowalczuk mit Gästen beim Signieren von Exemplaren seines Buchs und zu fünft im Bild den früheren BStU-Mitarbeiter und Autor Arno Polzin, den Zeitzeugen und SUPERillu-Fotografen Yorck Maecke, Gerald Praschl, Ilko-Sascha Kowalczuk und Dr. Steffi Lehmann (v.l.) bei einer Führung durch unseren Lernort im früheren Hafttrakt B vor Veranstaltungsbeginn.

Die Veranstaltung wurde mitfinanziert durch Steuermittel auf der Grundlage des vom Sächsischen Landtag beschlossenen Haushaltes. Weitere Informationen finden Sie unter www.erinnerungskultur.sachsen.de. Wir danken außerdem allen Ehrenamtlichen und Mitwirkenden sowie TD Media für den technischen Support.

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