Vor einem Jahr in der Nacht zum 15. Mai 2021 verstarb unser Zeitzeuge und Vorstandsmitglied Jörg Beier nach schwerer Krankheit. Unser Verein und der entstehende Lern- und Gedenkort haben ihm viel zu verdanken, und wir vermissen ihn sehr. In einem Gastbeitrag für unsere Website erinnert der Chemnitzer Journalist und Buchautor Matthias Zwarg an seinen und unseren Freund. Das Gedicht am Textanfang las er einmal für Jörg Beier.
Wirst du mich noch kennen
Wenn wir uns sehn im Himmel?
Wie wirst du mich nennen
Wenn wir uns sehn im Himmel?
Sag, gibt es wirklich Erlösung da oben
Beginnt da alles noch einmal von vorn
Wird der Schatz dort endlich gehoben
Werden wir dort noch einmal geborn?
Bringt uns die Taube dann endlich Frieden
Wer hat dort Erbarmen, ist dort Verzeihn
Und wo sind die Verdammten geblieben
Die nichts konnten, als ganz zu lieben
Und zu suchen, schon abgeschrieben –
Hört man dort von der Erde das Schrein?
Spielt dort oben jemand Rock n Roll
Trommelt jemand auf dem letzten Weg
Wer kassiert den Brückenzoll
Und wohin führt der schmale Steg?
Scheint da oben ein toter Mond
Für uns, wenn wir noch lieben?
Oder sind die Nächte unbewohnt
Wie für alle, die allein geblieben?
Wie gehn im Zeitlosen die Uhren
Oder ist dann alles zu spät
Siegt dort wirklich, wer immer verloren
Und wohin geht man, wenn man dann geht?
Wirst du mich noch kennen
Wenn wir uns sehn im Himmel?
Wie wirst du mich nennen
Wenn wir uns sehn, im Himmel?
Jörg Beiers Leben waren nie nur Zahlen und Daten, es war Gefühl, Energie, Mut, Phantasie. Geboren am 26. Dezember 1946 in einer Arbeiterfamilie in Schwarzenberg im Erzgebirge, lese- und wissensdurstig aufgewachsen mit Eltern, die den eigenwilligen Sohn unterstützten. Und diese Unterstützung sollte er bald nötig haben. Geboren in ein Land, das vom Krieg gezeichnet war, den es selbst über die Welt gebracht hatte, ein Land dessen Menschen in übergroßer Mehrheit stolz für ein Regime in diesen Krieg gezogen waren, das den Holocaust und Millionen Tote zu verantworten hatte – und dessen glühende Anhänger, dessen opportunistische Mitläufer, dessen innere und äußere Emigranten, dessen Opfer nicht irgendwo weit weg, sondern auch vor der eigenen Haustür gelebt hatten und noch immer lebten. Ein Leben mit Schuld, mit Verantwortung, mit der Verweigerung von Schuld und Verantwortung, mit Angst, Verzweiflung, aber auch mit Mut und Hilfsbereitschaft. Es muss Jörg Beier schon als Kind und Jugendlichem klar geworden sein, dass all die guten und schlimmen Sachen, nicht irgendwo, sondern auch hier passieren, wie das ein anderer Schwarzenberger, David Meißner, in einem wunderbaren Lied besingt.
Jörg Beier absolvierte eine Lehre als Holzmodellbauer, begann 1967 ein Studium an der Fachschule für Angewandte Kunst in Schneeberg. Der Prager Frühling machte ihm wie so vielen Hoffnung auf Veränderungen in der DDR, auf einen „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“. Dafür wurde er 1969 von der Stasi verhaftet und nach dreimonatiger Einzelhaft im Gefängnis mit Verhören und Schikanen auf dem Kaßberg zu 18 Monaten Zuchthaus wegen „staatsfeindlicher Hetze“ verurteilt. Aus der Haftzeit gibt es einen berührenden Briefwechsel mit seinen Eltern, der von Mut und Menschlichkeit kündet.
„Im Leben geht nicht immer alles glatt, und so manche Lehre geht auf Kosten von Kummer und Sorge.“ Schreibt Jörg Beier Silvester 1969 an seine Eltern.
Und sie antworten: „Das alte Jahr geht zu Ende und wir werden noch lange mit Bitternis an das Jahr 1969 zurückdenken.“ Die Mutter schrieb ihm halbe Bücher ab und schmuggelte die Zeilen ins Gefängnis, auf dem Kaßberg hörte Jörg Beier die Glocken der nahen Kreuzkirche als ein Zeichen der Hoffnung.
Nach Cottbus schreiben die Eltern 1970: „Ich stelle mir vor, wie wir vor der Haftanstalt stehen und warten und wie sich endlich, endlich das Tor auftut und – Mein lieber Junge, Dein Leben wird reicher als das anderer Menschen sein, denn alle Leiden und alle Freuden wirst Du tiefer erleben.“
Im Oktober 1970 wurde Jörg Beier zur „Bewährung in der Produktion“ entlassen. Später nahm ihn Hans Brockhage auf, bei dem der junge Künstler seinen eigenen Stil als Holzbildhauer entwickelte. Er wurde freischaffender Holzbildhauer, Leiter einer Galerie, gründete eine Kunstkneipe in Schwarzenberg und hielt den Traum von der „Freien Republik“ am Leben.
Jörg Beier war nie auf „Rache“ aus – aber die Erinnerung lag ihm am Herzen. Die Erinnerungen an die Schrecken des Krieges vor der eigenen Haustür, die Erinnerungen an die Repressalien gegen Andersdenkende zu DDR-Zeiten. Deshalb setzte er sich engagiert für die Gründung des Lern- und Gedenkortes Kaßberg-Gefängnis ein.
Heute vor einem Jahr ist Jörg Beier nach schwerer Krankheit gestorben.
Unser Autor Matthias Zwarg, geboren 1958 in Bad Düben, ist Redakteur der Freien Presse Chemnitz. Für den von Nancy Aris und Clemens Heitmann herausgegebenen Band „Via Knast in den Westen – Das Kaßberg-Gefängnis und seine Geschichte“, erschienen in der Evangelischen Verlagsanstalt Leipzig, steuerte er einen Text über Jörg Beiers Briefe aus der Haft bei.
Der Briefwechsel Jörg Beiers aus der Haft ist in dem Buch „Aber die Gedanken sind frei. Briefe durch die Gitter“, erschienen 2015, veröffentlicht. Unseren Nachruf auf unseren Zeitzeugen und Vorstand Jörg Beier finden Sie hier.
Das Porträtfoto oben zeigt Jörg Beier (Quelle: privat), das Autorenfoto von Matthias Zwarg stammt von Uwe Mann/Freie Presse Chemnitz – mit freundlicher Genehmigung.