Dauerausstellung komplett: Mehr als 70 Gäste bei gemeinsamer Begehung

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Mehr als 70 Gäste, darunter Familienangehörige politischer Gefangenen und Verfolgten der NS-Zeit, DDR-Zeitzeuginnen und Zeitzeugen, Vorstands- und Vereinsmitglieder sowie Vertreterinnen und Vertreter von Partnerinstitutionen, sind gestern Abend einer Einladung unseres Lern- und Gedenkorts Kaßberg-Gefängnis zu einer gemeinsamen feierlichen Begehung im Lernort im ehemaligen Hafttrakt B gefolgt. Anlass war die komplette Fertigstellung von verschiedenen Ausstellungsbereichen über die DDR und über die Zeit des Nationalsozialismus, die bei der Eröffnung unseres Lernorts im Oktober vergangenen Jahres teilweise noch lückenhaft waren. Bei der Veranstaltung lag der Schwerpunkt auf Haftschicksalen der NS-Zeit.

„Das ehemalige Kaßberg-Gefängnis wird aufgrund seiner Besonderheit als Abwicklungsort des Häftlingsfreikaufs häufig über die DDR-Zeit wahrgenommen, und das ist auch nicht falsch“, sagte unser Vereinsvorsitzender Jürgen Renz in seinem Grußwort. „Aber es ist ein einstiger politischer Haftort mit doppelter Dikaturgeschichte. Auch in der Zeit des Nationalsozialismus waren Menschen aus politischen Gründen hier eingesperrt. Das Kaßberg-Gefängnis spielte eine Rolle bei der Entrechtung, Ausgrenzung und Verfolgung von Jüdinnen und Juden, die im Holocaust mündeten. Unserem Verein war es von Anfang an wichtig, auch an Schicksale damaliger Haftinsassinnen und Haftinsassen zu erinnern.“

Insgesamt zwölf Biografien von Verfolgten aus der NS-Zeit – jüdische Schicksale, Sozialdemokraten und Kommunisten, ein Zeuge Jehovas, zur Zwangsarbeit nach Deutschland Verschleppte – werden in den ehemaligen Gefängniszellen im dritten Obergeschoss unseres neuen Lernorts dargestellt. Hinzu kommt ein Kontextbereich, in dem sich Besucherinnen und Besucher unserer Dauerausstellung in einem Rundgang über Zusammenhänge und Hintergründe, Ideologie und Verfolgungspraxis der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft informieren können. Zielgruppe sind neben Einzelbesucherinnen und -besuchern vor allem Jugendgruppen und Schulklassen.

Der Lern- und Gedenkort Kaßberg-Gefängnis sei ein „eindrucksvoller Ort, der an das Unrecht während der NS-Diktatur von 1933 bis 1945 und in der DDR“ erinnere, sagte die Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde Chemnitz, Dr. Ruth Röcher, in ihrem Redebeitrag. „Für viele in der heutigen Schülergeneration sind die politische Wende, die DDR-Zeit, die Nazi-Diktatur und der Zweite Weltkrieg Ereignisse, die weit weg von ihrem Alltag und ihrem Bewusstsein sind. Es liegt an uns, die kommende Generation zu befähigen, gegenwartsorientierte Bezüge und Schlussfolgerungen aus der Geschichte zu entwickeln. Lernen aus der Geschichte ist ein komplexes pädagogisches Feld. Ich bin überzeugt, dass der Lernort Kaßberg-Gefängnis dazu einen wichtigen Beitrag leisten wird.“

Enrico Hilbert, Vorsitzender des Verbands der Verfolgten des Naziregimes, ihrer Hinterblieben und Freunde (VVN) Chemnitz, sprach von einem Glückstag für Chemnitz. In der Stadt gebe es nun endlich wieder einen Ort, der unmittelbar Auskunft gebe über die Zeit des Nationalsozialismus. „Unser Verband hat gegen Widerstände aus den eigenen Reihen und von außen von Beginn an und spätestens ab 2011 die Entstehung des Gedenkorts befürwortet und nach Möglichkeit unterstützt“, so Hilbert. „Ein Ort des Gedenkens, des Lernens, der Bildung soll hier entstehen, mit klarer Abgrenzung zwischen den geschichtlichen Epochen und der Wahrheit verpflichtet. Es ist durch die Initiative des Vereins Lern- und Gedenkort Kaßberg-Gefängnis, gefördert von Politik und Bürgern, ein solcher Ort entstanden, und es ist und bleibt richtig, diesen Verein in seiner Arbeit zu unterstützen und weiter mitzuwirken.“

Als Nachfahrin eines Haftinsassen der NS-Zeit sprach Marion Rotstein, Enkeltochter des 1939 im Kaßberg inhaftierten und später ins besetzte Polen verschleppten jüdischen Chemnitzers Jankel Rotstein. Dabei ging sie insbesondere auf die in der Ausstellung gezeigten Briefe ihres Großvaters aus der Haft und dem Warschauer Ghetto ein. Unter den schlimmen Bedingungen dort war ihr Großvater 1941 ums Leben gekommen. „Diese Briefe, die meine Großmutter sorgsam aufbewahrt hatte, gelangten nach ihrem Ableben in den Besitz meines Vaters. Ich erinnere mich, dass er sie mir einmal zeigte, aber für mich stellte es eine große Mühe dar, die alte deutsche Schrift als Handschrift zu lesen. Für meinen Vater war es wohl zu schmerzlich, sie immer wieder zu lesen. Erst in Zusammenhang mit der Einrichtung dieser Gedenkstätte befasste ich mich intensiver damit.“

Und weiter: „Diese Briefe verdeutlichen, unter welchen Entbehrungen mein Großvater leiden musste, aber auch wie groß seine Liebe zu seiner Familie war. Sie sind von einer lebendigen Tiefe, die unter die Haut geht. Ich stelle mir vor, was Frau und Kinder beim Lesen fühlten und wie niederschmetternd letztendlich die Nachricht von seinem Tod war und wie ohnmächtig sie sich fühlten, da sie sich nicht von ihm verabschieden und ihn nicht nach jüdischer Sitte zu Grabe tragen konnten. Es bewegt mich innerlich sehr, darüber nachzudenken. Dennoch bin ich stolz, dass meinem Großvater, stellvertretend für zahlreiche Juden, die von den Nazis in den Tod getrieben wurden, eine Zelle in diesem Lern- und Gedenkort gewidmet wurde und auf diese Weise die Familiengeschichte lebendig bleibt.“

Musikalisch umrahmt wurden die Redebeiträge von Jakub Tylman, Solocellist der Robert-Schumann-Philharmonie Chemnitz. Im Anschluss führte unser Projekt- und kuratorischer Leiter Peter Wellach die Gäste durch die nun komplettierte Dauerausstellung im Lernort im früheren Hafttrakt B. Mit insgesamt zwölf Haftschicksalen, die in den einstigen Gefängniszellen im dritten Obergeschoss gezeigt werden, und dem fertiggestellten Kontextbereich sei der Ausstellungsteil über die NS-Zeit ebenso umfangreich wie der zum Häftlingsfreikauf aus der DDR, hob Peter Wellach hervor.

Unsere Bilder, fotografiert von unserem wissenschaftlichen Mitarbeiter Robert Schröpfer und unserer Freiwilligen im Bundesfreiwilligendienst Oleksandra Patlai, zeigen oben die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der gemeinsamen feierlichen Begehung bei der Führung mit Peter Wellach (M.) im Ausstellungsbereich im dritten Obergeschoss, außerdem unten unseren Vorsitzenden Jürgen Renz, Marion Rotstein und die Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde Chemnitz, Dr. Ruth Röcher, bei ihren Redebeiträgen, in den Einzelaufnahmen Dr. Ruth Röcher gemeinsam mit dem Historiker Dr. Jürgen Nitsche, den Leihgeber und DDR-Zeitzeugen Dr. Werner Abel im Ausstellungsbereich über Walter Janka, Hermann Brudner mit weiteren Gästen im Ausstellungsbereich über seinen Vater Max Brudner, unsere wissenschaftliche Mitarbeiterin Kristina Hahn (l.), Dr. Benjamin Page und unsere wissenschaftliche Leiterin Dr. Steffi Lehmann, den Vorsitzenden der Israelitischen Religionsgemeinde zu Leipzig, Küf Kaufmann, im Gespräch mit Projektleiterin Anja Lippe vom Team „Jahr der jüdischen Kultur in Sachsen 2026“, Bildhauer Frank Diettrich (M.) und seine Frau Hannelore Diettrich im Gespräch mit Enrico Hilbert vom VVN Chemnitz und zu dritt im Bild unseren kuratorischen Leiter Peter Wellach (M.) gemeinsam mit dem Redaktionsleiter unserer Dauerausstellung, Florian Mittelbach (r.), und Redakteur Hannes Walter, dessen Schwerpunkt auf dem Ausstellungsbereich zur NS-Zeit lag.

Die Errichtung des Lernorts und der Dauerausstellung wurde gefördert durch die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien und mitfinanziert durch Steuermittel auf der Grundlage des von den Abgeordneten des Sächsischen Landtags beschlossenen Haushaltes, die Stiftung Sächsische Gedenkstätten sowie den Kulturraum Stadt Chemnitz.

Wir danken den Fördermittelgebern, allen öffentlichen und privaten Leihgeberinnen und Leihgebern, den Historikern Dr. Jürgen Nitsche und Christian Lieberwirth, der Jüdischen Gemeinde Chemnitz, dem VVN Chemnitz, unserem kuratorischen Leiter Peter Wellach und beier+wellach projekte Berlin, Jörg Scherrmann, den Ausstellungsbauern von id3d-berlin und allen beteiligten Gewerken sowie allen Mitwirkenden, Helferinnen und Helfern gestern Abend. Vor allem aber möchten wir uns bedanken bei den Angehörigen und Familien ehemaliger Haftinsassinnen und Haftinsassen, die uns vielfach Einblick in private Dokumente und Erinnerungen gewährten, Briefe, Fotos und Erinnerungsgegenstände aus den Nachlässen zur Verfügung stellten. Ohne sie wäre diese Ausstellung so nicht möglich gewesen.

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