Im Rahmen unseres Ukraine-Schwerpunkts zur Fotoausstellung „Ukrainische Flüchtlinge: Zwei Adressen – ein Schicksal“ war gestern Abend Prof. Dr. Vladimir Shikhman, Inhaber des Lehrstuhls für Wirtschaftsmathematik an der TU Chemnitz, mit einem Vortrag in unserem Lernort zu Gast. Rund 50 Besucherinnen und Besucher folgten seinen Ausführungen unter dem Titel „Steckt der russisch-ukrainische Krieg in einer Sackgasse?“. Schwerpunkt war eine pointierte Analyse von Zielen und Strategien Russlands, der Ukraine und des Westens. Russland habe seit Kriegsbeginn 2014 verschiedene Taktiken verfolgt, mit immer demselben Ziel, den souveränen Nachbarstaat unter seine Kontrolle zu bringen. Im Westen sei das zu lange nicht verstanden worden. So sei verpasst worden, die Vollinvasion vom Februar 2022 mit einer glaubwürdigen Abschreckung zu verhindern. Bis heute müsse man beim Westen eher von Friedenszielen sprechen, deren Umsetzung fragwürdig sei, während Putin klare Kriegsziele verfolge und blutig durchzusetzen versuche.
Anhand von Modellen aus der Spieltheorie („Battle of the Sexes“, „Prisoner’s Dilemma“, „Chicken Game“) deklinierte Shikhman in der gegebenen Konstellation Handlungsmöglichkeiten durch. Deutlich wurde, wie kontraproduktiv und verlustreich sich Dissonanzen zwischen dem Westen und der Ukraine etwa in Bezug auf zögerliche Waffenlieferungen auswirken, wie instabil das vom Westen angestrebte erzwungene Gleichgewicht, die Ukraine dürfe nicht verlieren, Russland nicht gewinnen, wäre und wo die Grenzen mathematischer Beschreibungsansätze liegen. Die Spieltheorie gehe immer von Akteuren aus, deren Handeln auf rationalen Erwägungen beruhe. Russland hingegen erscheine, ob vorgeblich oder tatsächlich, als „Mad Man“, als irrationaler Akteur, bei dem Opportunitäten nicht mehr maßgeblich seien. Mit einem solchen Gegner könne man nicht „spielen“. Wie zur Illustration der Thesen hatte Moskau am selben Tag verkündet, eine Revision der Grenzen zu Nato-Staaten in der Ostsee anzustreben.
Aber taugt Mathematik überhaupt, menschliches Verhalten zu beschreiben? An dieser Frage entzündete sich im Gespräch dann eine Diskussion. Kulturelle und ideologische Faktoren, so die Kritik, fänden keinen Eingang, der Blick auf Wesentliches werde verstellt. Es gehe ihm, entgegnete Vladimir Shikhman, um eine Sensibilisierung für strategisches Denken und um Aspekte, nicht um ein Theoriegebäude. Einig waren sich die Diskutanten hingegen darin, dass eine Friedensbewegung in der Diktatur Russland momentan ebenso wenig zu erwarten sei wie ein Rückzug ähnlich dem der sowjetischen Truppen aus Afghanistan Ende der 1980er-Jahre. Das heutige Russland unterscheide sich fundamental von der niedergehenden späten Sowjetunion. Der Ausblick war entsprechend pessimistisch: Der Krieg, ob heiß oder hybrid, könne womöglich noch viele Jahre andauern und von Russland ausgeweitet werden. Darauf sei der Westen noch nicht vorbereitet.
Die Fotoausstellung „Ukrainische Flüchtlinge: Zwei Adressen – ein Schicksal“ der Fotofreunde Chemnitz ist – verlängert – noch bis zum 23. Juni zu den regulären Öffnungszeiten in unserem Lernort zu sehen. Unseren Bericht von der Eröffnung der Ausstellung lesen Sie hier.
Wir danken Prof. Dr. Vladimir Shikhman und den Fotofreunden Chemnitz für die freundliche Zusammenarbeit.