Zeitzeuge im Gespräch mit Besucherinnen und Besuchern

Zum zweiten Mal in dieser Woche war heute Nachmittag Michael Schlosser in unserem Lern- und Gedenkort zu Gast. Der Zeitzeuge des Kaßberg-Gefängnisses war für ein Gespräch mit den Teilnehmerinnen und Teilnehmern unserer öffentlichen Führung nach Chemnitz gekommen. Zunächst gab unser wissenschaftlicher Mitarbeiter Robert Schröpfer einen Überblick über die doppelte Diktaturgeschichte des einstigen politischen Haftorts, den Häftlingsfreikauf aus der DDR und die Gedenkstättenkonzeption. Anschließend berichtete Michael Schlosser – als besonderer Höhepunkt und Ausnahme bei der heutigen Veranstaltung – den rund 50 Besucherinnen und Besuchern von seinen Erfahrungen mit dem ostdeutschen Regime.

Der Kfz-Mechaniker und Tüftler Michael Schlosser, geboren 1944 in Triptis (Thüringen), hatte in den 1970er-Jahren in der DDR mehrfach eine Lizenz zur Eröffnung einer eigenen Autowerkstatt beantragt, die ihm die Behörden jedoch versagten. Inspiriert von einer Aktion des Springer-Verlags entwickelte er daraufhin ab Herbst 1980 in einem zur Tarnung auf seinem Grundstück errichteten Hühnerstall ein Flugzeug, ausgelegt für eine Flugweite von 20 Kilometern Luftlinie. Von einer Wiese nahe der A9 sollte das Motorflugzeug die innerdeutsche Grenze am Grenzübergang Hirschberg in Ostthüringen überfliegen und im oberfränkischen Rudolphstein in der Freiheit landen.

Im Oktober 1983 wurde Michael Schlosser festgenommen. Zwei Kollegen, denen er privat oft bei Autoreparaturen geholfen hatte, hatten ihn verraten. Ihnen war anscheinend der Hühnerstall aufgefallen, der keine Hühner beherbergte. Das Kreisgericht Dresden-Ost verurteilte Schlosser im April 1984 wegen „Vorbereitung zum ungesetzlichen Grenzübertritt im schweren Fall“ zu vier Jahren und sechs Monaten Freiheitsentzug, die er in Bautzen I antreten musste. Im Dezember 1984 wurde er im Rahmen des Häftlingsfreikaufs über den Kaßberg in die Bundesrepublik entlassen. Dort erfüllte er sich seinen Traum von der eigenen Autowerkstatt. 2004 kehrte Michael Schlosser nach Sachsen zurück und engagiert sich seither als Zeitzeuge für die Gedenkstätte Bautzner Straße in Dresden und für unseren Verein.

Unsere Bilder, fotografiert von Robert Schröpfer, zeigen Michael Schlosser mit den Teilnehmerinnen und Teilnehmern der Führung in der einstigen Hafthalle in unserem neuen Lernort im früheren Hafttrakt B.

Bei der Chemnitzer Museumsnacht 2024 am Samstag, 4. Mai ist neben weiteren Zeitzeuginnen und Zeitzeugen auch Michael Schlosser wieder zu Gast und mit einem Nachbau seines Flugzeugs am Lern- und Gedenkort Kaßberg-Gefängnis zu erleben.

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