Zeitzeugenbesuch hatte heute unser Lern- und Gedenkort Kaßberg-Gefängnis. Michael Schlosser war nach Chemnitz gekommen, um im Rahmen eines gemeinsamen Projekttags unseres Ortes mit dem Bundesarchiv – Stasi-Unterlagen-Archiv (StUA) Chemnitz und der Kindervereinigung Sachsen e.V. für Freiwillige im Bundesfreiwilligendienst an einem Gespräch teilzunehmen. Zuvor hatte unsere wissenschaftliche Mitarbeiterin Kristina Hahn die 15 Teilnehmerinnen und Teilnehmer in einer Führung über die doppelte Diktaturgeschichte des einstigen politischen Haftorts und den Häftlingsfreikauf aus der DDR informiert. Sandra Meier vom StUA Chemnitz gab in einem Vortrag einen Überblick zu den Themen Flucht und Ausreise aus der DDR sowie Staatssicherheit, bevor Michael Schlosser von seinen Erlebnissen berichtete.
Der Kfz-Mechaniker und Tüftler Michael Schlosser, geboren 1944 in Triptis (Thüringen), hatte in der DDR mehrfach eine Lizenz zur Eröffnung einer eigenen Autowerkstatt beantragt, die ihm die Behörden jedoch versagten. Inspiriert von einer Aktion des Springer-Verlags entwickelte er daraufhin ab Herbst 1980 in einem zur Tarnung auf seinem Grundstück errichteten Hühnerstall ein Flugzeug, ausgelegt für eine Flugweite von 20 Kilometern Luftlinie. Von einer Wiese nahe der A9 sollte das Motorflugzeug die innerdeutsche Grenze am Grenzübergang Hirschberg in Ostthüringen überfliegen und im fränkischen Rudolphstein in der Freiheit landen.
Im Oktober 1983 wurde Michael Schlosser festgenommen. Zwei Kollegen, denen er privat oft bei Autoreparaturen geholfen hatte, hatten ihn verraten. Ihnen war anscheinend der Hühnerstall aufgefallen, der keine Hühner beherbergte. Das Kreisgericht Dresden-Ost verurteilte Schlosser im April 1984 wegen „Vorbereitung zum ungesetzlichen Grenzübertritt im schweren Fall“ zu vier Jahren und sechs Monaten Freiheitsentzug, die er in Bautzen I antreten musste. Im Dezember 1984 wurde er im Rahmen des Häftlingsfreikaufs über den Kaßberg in die Bundesrepublik entlassen. Dort erfüllte er sich seinen Traum von der eigenen Autowerkstatt. 2004 kehrte Michael Schlosser nach Sachsen zurück und engagiert sich seither als Zeitzeuge für die Gedenkstätte Bautzner Straße in Dresden und für unseren Verein.
Unsere Fotos zeigen oben Michael Schlosser (hinten rechts) mit den Teilnehmerinnen und Teilnehmern des Projekttags beim Zeitzeugengespräch, außerdem unten unsere wissenschaftliche Mitarbeiterin Kristina Hahn bei der Führung, StUA-Mitarbeiterin Sandra Meier beim Vortrag sowie Michael Schlosser in seinem biografischen Ausstellungsbereich im ersten Obergeschoss.
Bereits gestern war eine Gruppe Freiwilliger im Bundesfreiwilligendienst vom Selbsthilfe 91 e.V. Chemnitz in unserem Lernort im früheren Hafttrakt B zu Gast. Außerdem nahmen in dieser Woche drei Schulklassen kombinierte Bildungsangebote des StUA Chemnitz und unseres Lern- und Gedenkorts Kaßberg-Gefängnis wahr.
Das Zeitzeugengespräch wurde mitfinanziert durch Steuermittel auf der Grundlage des von den Abgeordneten des Sächsischen Landtages beschlossenen Haushaltes. Wir danken unserem Zeitzeugen Michael Schlosser, dem StUA Chemnitz und der Kindervereinigung Sachsen e.V. für die freundliche Zusammenarbeit.
Informationen über unsere Bildungsangebote finden Sie hier.