Zeitzeugin im Gespräch

Warum will jemand, der linientreu erzogen wurde, die DDR verlassen? Wie fühlt es sich an, wenn dem eigenen Kind die überlebenswichtige medizinische Behandlung vorenthalten wird, weil sie Devisen kosten würde? Wie übersteht man Isolation und psychischen Druck in der Untersuchungshaft und wie die Akkordarbeit im Strafvollzug und die Aggressivität krimineller Mitgefangener? Was wurde mit Tochter und Sohn? Um Fragen wie diese ging es gestern Nachmittag bei einem Zeitzeugengespräch von Petra Weise mit Stipendiatinnen und Stipendiaten der Hanns-Seidel-Stiftung in Chemnitz, das unser Verein gemeinsam mit der Regionalgruppe Chemnitz – Mittweida – Dresden der Stiftung organisiert hatte. Die Leiterin unseres künftigen Lern- und Gedenkorts, Dr. Steffi Lehmann, und unsere wissenschaftliche Mitarbeiterin Kristina Hahn gaben einen Überblick über die Geschichte des ehemaligen Kaßberg-Gefängnisses und des Häftlingsfreikaufs, unser früheres Vorstandsmitglied Joseph Walthelm, selbst Stipendiat und heute Mitarbeiter des Gedenkstättenprojekts Hoheneck in Stollberg/Erzgebirge, über die Vergangenheit des dortigen früheren Frauenzuchthauses. Anschließend kam Petra Weise mit den Teilnehmerinnen und Teilnehmern über ihre Hafterfahrungen ins Gespräch.

Die Bibliothekarin aus Freiberg/Sachsen war durch eine lebensbedrohliche seltene Erkrankung ihrer damals dreijährigen Tochter in Konflikt mit der DDR geraten. Weil sie und ihr Mann keinen „bevölkerungsbedarfsgerechten Beruf“ ausübten, rangierte das Kind weit unten auf der Warteliste für die überlebensnotwendigen Medikamente. Auch ein Umzug nach Ost-Berlin und damit in den Einzugsbereich der dortigen Krankenhäuser brachte keine Lösung. Das Ehepaar mit seinen zwei Kindern entschloss sich deshalb, unterstützt von einem Bruder Petra Weises, zur Flucht über Bulgarien, um die Tochter im Westen behandeln lassen zu können. Beim Fluchtversuch im Juli 1980 wurde die Familie an der Grenze zu Jugoslawien aufgegriffen. Petra Weise kam in die Stasi-Untersuchungshaftanstalt in Berlin-Pankow und wurde im Oktober 1980 zu einem Jahr und acht Monaten Freiheitsentzug verurteilt. Sie war acht Monate lang in Hoheneck eingesperrt. Ehemann und Bruder erhielten höhere Haftstrafen und wurden ins Zuchthaus Brandenburg gebracht. Im Juli 1981 wurde das Ehepaar freigekauft und über den Kaßberg in die Bundesrepublik entlassen, kurz darauf auch der Bruder. Die beiden Kinder, um die sich die Großeltern gekümmert hatten, konnten acht Monate später nachkommen. Die Erkrankung der Tochter wurde im Westen erfolgreich behandelt. Das Kind wurde geheilt.

Unser Foto zeigt Petra Weise im Gespräch mit den Stipendiatinnen und Stipendiaten sowie unserer Gedenkstättenleiterin Dr. Steffi Lehmann (hinten rechts im Bild).

Die Veranstaltung wurde mitfinanziert mit Steuermitteln auf der Grundlage des von den Abgeordneten des Sächsischen Landtages beschlossenen Haushaltes. Wir danken Joseph Walthelm und der Regionalgruppe der Hanns-Seidel-Stiftung für die Kooperation sowie dem Umweltzentrum Chemnitz für die Gastfreundschaft.

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