Zeitzeugen-Erinnerungen und Punkrock im früheren Hafttrakt B

Viel los war gestern Abend im neuen Lernort im früheren Hafttrakt B. Mehr als 120 Besucherinnen und Besucher waren auf den Kaßberg gekommen, um Geralf Pochop mit seinem Erinnerungsbuch „Untergrund war Strategie – Punk in der DDR zwischen Rebellion und Repression“ und Sänger-Gitarrist Alüt zu sehen. Geralf Pochop, geboren 1964 in Halle, Hausbesetzer und Wehrdienst-Totelverweigerer, war Ende der 1970er-Jahre als Jugendlicher im Westradio auf Punk aufmerksam geworden und ab seinem ersten Punkrock-Konzertbesuch 1982 im Gemeindesaal der evangelisch-lutherischen Christuskirche in Halle angezogen von Kleidungsstil und rebellischem Habitus der Jugendkultur – und bald schockiert von der Repression, der sich ihre Anhängerinnen und Anhänger in der DDR ausgesetzt sahen.

Pochop selbst, so berichtete er, wurde 1986 von Stasi-Mitarbeitern mit dem Auto in ein Waldstück entführt, um unter Misshandlungen zu einer IM-Verpflichtungserklärung gezwungen zu werden. Er unterschrieb nichts, auch nicht, als ihm später – diesmal waren umgekehrt Erleichterungen die Stasi-Strategie – die Entlassung aus der Haft angeboten wurde. Im Oktober 1987 war Pochop festgenommen worden und wegen angeblicher „öffentlicher Herabwürdigung“ sechs Monate in Haft, 32 Tage davon in Isolation. „Als ich entlassen wurde, war ich der Staatsfeind, den die Stasi vorher in mich hineininterpretiert hatte“, so beschrieb er den Prozess seiner zunehmenden Politisierung wie den der Szene insgesamt.

Pochop organisierte Konzerte, schrieb für die Untergrundpublikation „mOAning star“, stellte einen Ausreiseantrag und machte Pläne, der DDR via Scheinehe mit einer West-Punkerin zu entkommen, da ihm der Druck der Behörden unerträglich geworden war. Dass die Stasi seinen sogenannten IM-Vorlauf gerade mit „Nicht geeignet“ geschlossen hatte, erfuhr er erst später aus den Akten. Im Vorfeld der Kommunalwahlen vom Mai 1989 wurde er schließlich im Zuge der Aktion „Symbol/Nelke 89“ gemeinsam mit weiteren missliebigen Personen im Zug aus der DDR in die Bundesrepublik abgeschoben.

Wie ging die Szene mit dem Verfolgungsdruck um? Welche seelischen Verletzungen trugen Betroffene aus dem brutalen Umgang des DDR-Regimes mit Punks davon? Wie war es, nach Ende der DDR von IMs innerhalb der eigenen Szene zu erfahren? Um „wunde Punkte“ (Pochop) wie diese ging es, moderiert von der Journalistin Thyra Veyder-Malberg, im anschließenden Publikumsgespräch. Auch dem Schutzraum, den Kirchengemeinden, immer abhängig vom Mut des jeweiligen Pfarrers, für die Subkultur darstellten, galt an dem Abend in Chemnitz besonderes Interesse, ebenso wie den Neonazi-Überfällen auf Punkkonzerte ab Mitte der 1980er-Jahre. Begleitet wurde die Lesung von Sänger-Gitarrist Alüt mit Songbeispielen von damals.

Die Veranstaltung war eine Kooperation der Sächsischen Landeszentrale für politische Bildung und der Sächsischen Landesbeauftragten zur Aufarbeitung der SED-Diktatur mit dem Lern- und Gedenkort Kaßberg-Gefängnis, dem Institut für Politikwissenschaft der TU Chemnitz und der Volkshochschule Chemnitz im Projekt „Kontrovers vor Ort“.

Wir danken allen Mitwirkenden und Beteiligten sowie unseren Partnerinnen und Partnern für die freundliche Zusammenarbeit – sowie der Kulturhauptstadt Europas Chemnitz 2025 gGmbH für die logistische Unterstützung.

Unsere Fotos zeigen oben Geralf Pochop (r.) und Alüt bei der Lesung unter der Freitreppe der früheren Hafthalle, außerdem unten Alüt an Gitarre und Mikrofon, einen Blick in die frühere Hafthalle und auf Exemplare von Geralf Pochops Erinnerungsbuch „Untergrund war Strategie – Punk in der DDR zwischen Rebellion und Repression“ auf unserem Büchertisch.

Unsere Reihe „Jugendopposition und Devianz in der späten DDR“, gemeinsam veranstaltet mit der Volkshochschule Chemnitz und dem Institut für Politikwissenschaft der TU Chemnitz sowie mitfinanziert von der Sächsischen Landesbeauftragten zur Aufarbeitung der SED-Diktatur – wird im Mai fortgesetzt mit der Veranstaltung „,Red Metal‘: Nikolai Okunew über die Heavy-Metal-Subkultur der DDR“.

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